Abschieben von persönlicher Täterschuld auf Strukturen und Systeme der Kirche
Nach kirchlich-theologischer Selbstbewertung verstoßen Geistliche, die gegen Minderjährige und Schutzbefohlene sexuelle Übergriffe begangen haben, in zweifacher Weise gegen die Lehre der Kirche: Sie missachteten zum einen das sechste Gebot; zum andern verletzten sie mit ihrem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen das Leben und die Würde derer, die ihrer Hirtensorge als Priester anvertraut waren. Sie stellen ihre sexuellen Bedürfnisse über ihre Amtspflichten. Papst Benedikt schärfte 2006 den irischen Bischöfen ein: „Es ist eine besonders schwere Sünde, wenn jemand, der eigentlich den Menschen zu Gott helfen soll, dem sich ein Kind, ein junger Mensch anvertraut, um den Herrn zu finden, ihm stattdessen missbraucht und vom Herrn wegführt." Gleichzeitig ist zu betonen, dass sich 96 Prozent der Geistlichen zu diesem Komplex nichts zuschulden kommen ließ.
Papst Benedikt leitete Reformen in Weltkirche und den deutschen Bistümern ein
Mit seinem Schreiben „De delictis gravioribus" forderte der damalige Glaubenspräfekt Kardinal Ratzinger 2001 von allen nationalen Bischofskonferenzen, Leitlinien zur Behandlung von Missbrauchsfällen zu erstellen und darin eine Anzeigenpflicht bei Staatsanwaltschaften vorzuschreiben. Die Deutsche Bischofskonferenz veröffentlichte die ersten Leitlinien 2002, die 2010 verschärft und 2013 aktualisiert wurden. Mit diesen vergleichsweise frühen Maßnahmen war und ist die katholische Kirche Schrittmacher in allen Dimensionen der Missbrauchsbekämpfung wie Erfassung, unabhängige Aufarbeitungsgremien, Entschädigungskommissionen, Sanktionierung, Prävention etc., jedenfalls weiter als alle anderen gesellschaftlichen Institutionen. Das bestätigte von unabhängiger Seite der SPD-Politiker Lars Castellucci (vgl. Artikel 3).
Der systemische Ansatz der Kirche in Deutschland ...
Neben diesen richtigen Aufarbeitungsschritten und Präventionsvorhaben legten die DBK-Bischöfe nach der Veröffentlichung der MHG-Studie im Herbst 2018 ein unvernünftiges und verfehltes Programm auf. Kein Verbandspolitiker oder Betriebsleiter würde sein gesamtes Organisationssystem sowie seine Betriebsphilosophie grundstürzend verändern, wenn vier Prozent ihrer leitenden Mitarbeiter gegen die Unternehmensregeln verstoßen. Doch genau diese selbstmörderische Agenda drückte der DBK-Vorsitzende, Kardinal Reinhard Marx, der Kirche in Deutschland auf – und sein Nachfolger Georg Bätzing folgt ihm auf dem Irrweg.
Der anerkannte kirchliche Meinungsführer in Sachen Missbrauch, Klaus Mertes SJ, hatte das Motto vorgegeben: „Das (kirchliche) System ist schuld" (an den Taten der übergriffigen Geistlichen). Demnach wären die einzelnen Missbrauchstäter nicht selbst schuldig oder nur nachrangig verantwortlich für ihre pädokriminellen Taten. Sondern die kirchlichen Strukturen hätten die Taten erst ermöglicht und begünstigt sowie die Täter verleitet oder gar verführt. Kardinal Marx spricht von der „institutionellen Schuld".
Wenn aber die Schuld für Missbrauchsvorkommen hauptsächlich bei der Institution Kirche läge, dann wären auch die Bischöfe von ihrer persönlichen Verantwortung entlastet. Die Behauptung von der Systemschuld der Kirche ent-schuldigt und relativiert den Schuldanteil der Bischöfe etwa durch Weiterversetzung der Missbrauchstäter oder Fehlverhalten bei der Rechtsanwendung. Dieser Selbstentschuldigungseffekt könnte dazu beigetragen haben, dass die Theorie von den kirchlichen System- und Strukturursachen so beliebt bei den meisten deutschen Bischöfen ist.
Die DBK-Bischöfe Marx und Bode haben im Laufe des Jahres 2019 das Konstrukt der institutionellen Schuld zur Begründungsphilosophie des Synodalen Wegs gemacht. Seither propagieren sie die Agenda: Die Kirche in Deutschland müsse durch radikale kirchliche Strukturänderungen die „systemischen Ursachen" für Missbrauch beseitigen. Am Ende dieses grundstürzenden Reformprozesses würden dann – strukturbedingt - sexuelle Übergriffe durch Kleriker nicht mehr oder kaum noch vorkommen. Danach könnte die Kirche mit der vom Papst geforderten Evangelisierung der Christen und Gemeinden anfangen. Inzwischen wird die synodale Systemänderung der Kirche als strukturelle Prä-Evangelisation vereinnahmt.
Die Mehrheit der deutschen Bischöfe scheint das Heil der Kirche in Strukturveränderungen zu suchen. Die von Jesus Christus geforderte persönliche Umkehr wird als Abkehr von der bisherigen kirchlichen Struktur und Hinwendung zu einer synodalen Anderskirche umgedeutet.
... entspricht nicht dem biblisch-christlichen Menschenbild und führt auf den (synodalen) Irrweg
Der Systemschuldthese liegt die neo-marxistische Auffassung zugrunde, dass das Verhalten Einzelner durch die Verhältnisse bestimmt werde, insbesondere durch Machtkonstellationen. Mit dem systemischen Ansatz adaptierten die führenden deutschen Bischöfe und Theologen die formalen Kategorien der südamerikanischen Befreiungstheologie der 70er Jahre. Die war in weiten Teilen von der marxistischen Theorie geprägt, nach der gesellschaftliche Strukturen das Handeln der Menschen bestimmten. Nach Karl Marx agieren die ökonomisch und politisch Mächtigen sowie das Heer ihrer bezahlten Funktionäre und Angestellten nur als „Charaktermasken", die nach den Gesetzen des Kapitalismus' fungieren. Die kollektive Masse der Armen dagegen hätten die Chance und (heils-)geschichtliche Aufgabe, so die Befreiungstheologen, gegen das System von Ausbeutung und Unterdrückung durch ihre Orthopraxie des Protesthandelns die ungerechten und „sündigen Machtstrukturen" zu verändern und abzuschaffen.
Es war der Glaubenspräfekt Kardinal Joseph Ratzinger, der in einer längeren Instruktion vom August 1984 diese theologisch gefärbte, aber marxistisch fundierte System- und Strukturtheorie der Befreiungstheologen zerpflückte: „Die Verkehrung von Moralität und Strukturen stammt aus einer materialistischen Anthropologie, die mit der Wahrheit über den Menschen unvereinbar ist." Indem der marxistische Zeitgeist menschliches Verhalten zu einer Funktion der Verhältnisse erklärt, wird das biblisch-christliche Menschenbild von der Freiheit, Würde und Verantwortung der Person in Abrede gestellt. Doch Schuld ist immer persönlich. In seinem Hirtenbrief an die irischen Katholiken forderte Papst Benedikt 2010 die übergriffigen Geistlichen auf, „Verantwortung für die begangenen Sünden zu übernehmen, nichts zu verheimlichen und Eure Schuld öffentlich anzuerkennen".
Abschieben von persönlicher Täterschuld auf Strukturen und Systeme der Kirche
Schuldverstrickung sowie Schuldbekenntnis und -vergebung setzen das christliche Menschenbild voraus. Doch mit den Begriffen der Systemschuld, mit sündigen Strukturen und systemischen Ursachen wird die persönliche Schuld und Verantwortung relativiert und zur Bedeutungslosigkeit verdrängt.
Laut MHG-Studie (S. 116) anerkannte ein Teil der beschuldigten Kleriker ihre persönliche Schuld und suchten Formen individueller Buße für ihr unrechtes Tun. Aber „häufig fanden sich bei den Beschuldigten Tendenzen, eigene Verantwortung und Schuld zu externalisieren", also nach außen abzuschieben auf die Kirche (S.8). „Vergleichsweise viele Beschuldigte gaben der kirchlichen Institution eine Mitschuld" sowohl an ihren eigenen Missbrauchstaten wie auch an den nach ihrer Meinung zu harten Strafen für ihre Vergehen, die sie bagatellisierten (S.117).
Für die übergriffigen Geistlichen ist es geradezu eine Einladung zum unchristlichen Schuldabschieben auf die Kirche, wenn Kardinal Marx das persönliche Versagen von Missbrauchstätern auf das „institutionellen Versagen" der Kirche übertragen will. Mit seiner Systemschuldthese betreibt der Münchener Kardinal eine neo-marxistische Schuldverlagerung vom Täter-Fehlverhalten auf kirchliche Verhältnisse. Das Abwälzen von der Schuld Einzelner auf die „Mitschuld der Institution" widerspricht der christlichen Lehre von der persönlichen Schuld sowie der Pflicht und Praxis zum persönlichen Sündenbekenntnis. Es widerspricht aber auch der biblischen Erlösungslehre, nach der uns Christus von der Knechtschaft der Sünde befreit - und nicht von sündigen Strukturen.
Die Medien stricken die schwarzen Legenden gegen die Kirche fort ...
Prof. Norbert Leygraf formulierte 2012 in seiner Analyse von forensischen Gutachten zu sexuell übergriffigen Geistlichen eine schlichte Grundwahrheit: „Die Verantwortung für sexuelle Missbrauchshandlungen ist bei den Tätern zu suchen und kann nicht auf die Institution ‚katholische Kirche' übertragen werden, wie es in der derzeitigen medialen Berichterstattung häufig der Fall ist. Sexualdelikte werden von den unterschiedlichsten Berufsgruppen begangen (z. B. auch Polizisten, Richtern, Ärzten, Pädagogen u. v. a. m.), dennoch stellt man nicht das Rechtssystem oder eine ganze Profession in Frage."
Seit 2010 haben die säkularen Medien wiederholt bei Missbrauchstaten von vier Prozent der Geistlichen die gesamte Kirche angeschwärzt. Bei jeder Gelegenheit wie etwa die MHG- Publikation betrieben sie eine Skandalisierung der Kirche. Erst kürzlich nach der Publikation des WSW-Gutachtens wurden Papst und Kirche wieder mit einer Empörungskampagne in die Zange genommen.
Bei anderen gesellschaftlichen Gruppen wird die Schuldverschiebung auf die jeweiligen Institutionen nicht vollzogen: Bei missbrauchenden Trainern, Lehrern oder Sozialarbeitern werden nicht der Sportverband, die Schule oder das Jugendamt als Täterorganisationen angeprangert. Angesichts des „pandemischen" Ausmaßes von Missbrauch in der Gesellschaft (Joh. Rörig) rücken die medialen Skandalkampagnen die Kirche in eine Sündenbockrolle (vgl. Artikel 3). Das ist historisch schon einmal passiert mit der Hexenverfolgung. Die Medien stricken daran, den schwarzen Legenden gegen die Kirche eine neu hinzuzufügen – etwa mit der Formel: Kreuzzüge – Hexenverfolgung – Missbrauch, was man schon vereinzelt in den sozialen Medien lesen kann.
Angesichts dieser epochalen Tendenz zum Schlechtreden, Anschwärzen und Verleumden der Kirche wäre es die Aufgabe der Bischöfe, eine Anti-Defamationsstrategie zu entwickeln und ihre Fachressourcen in den Ordinariaten dagegen einzusetzen.
Was geschieht in Wirklichkeit?
... Die DBK-Bischöfe reichen den Medien die Vorlagen für die schwarzen Legenden:
Die Bischöfe Marx und Ackermann raunen im Zusammenhang mit Missbrauchstätern von Machtstrukturen als „dunkle Seite der Kirche" – mit Assoziationen zum vermeintlich ‚dunklen Mittelalter'. Bischof Bätzing bezichtigt die Kirche, den medialen Vorwurf der „Täterorganisation" zu akzeptieren – auch das ein Wort aus der ‚dunklen Zeit deutscher Geschichte'. Bischof Overbeck von Essen betreibt ebenfalls eine Selbstskandalisierung der Kirche, indem er den Missbrauch einer kleinen Prozentzahl von Geistlichen zum „großen Desaster" der ganzen Kirche erklärt, die „bereits weit in den Abgrund geraten" sei.
Diese Bischöfe glauben offenbar, wenn sie sich mit Beschuldigung der Kirche an die skandalisierenden Medien anbiedern, könnten sie sich eine ‚gute Presse' erkaufen. Weit gefehlt! Das antikatholische Ressentiment von Journalisten ist historisch tief verankert.
Hubert Hecker
1 "Das System ist schuld", Interview mit P. Klaus Mertes zum Thema Missbrauch in der katholischen Kirche, FNP am 19.2.2019
2 Instruktion über einige Aspekte der "Theologie der Befreiung", Kongregation für die Glaubenslehre, Präfekt Joseph Kardinal Ratzinger, vom 24.8.1984,
Kap. 11, Nr.8
3 Hirtenbrief von Papst Benedikt XVI. an die Katholiken on Irland vom 19. März 2010, Nr. 7