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Ein unheilvolles kirchliches Präventionskonzept

 

Von Hubert Hecker

Die Bundeskonferenz der diözesanen Präventionsbeauftragten hat im Januar 2021 ein „Positionspapier zur Gestaltung der Schnittstelle von Prävention sexualisierter Gewalt und sexueller Bildung“ erstellt.[1] Das Papier ist auf der Seite der Deutschen Bischofskonferenz Prävention-Kirche‘ publiziert. Es geht mit Hinweis auf die MHG-Studie von der These aus, dass die „Stagnation der katholischen Sexuallehre“ bzw. ihre „lustfeindliche Sichtweise“ Risikofaktor und „mittelbare Ursache“ für Missbrauchstaten im kirchlichen Bereich seien. Daher müsse vor jeder Prävention die Sexualmoral der katholischen Kirche neu überdacht und auch die Sexualpädagogik in kirchlichen Einrichtungen neu konzipiert werden.

Kein Mandat der Wissenschaft

Doch diese Behauptungen haben in der 366-seitigen MHG-Studie nur Fußnotencharakter.[2]  Jedenfalls ist die These vom Risikofaktor katholische Sexuallehre in keiner Weise Forschungsergebnis der Studie. Auch die „Zusammenfassung“ der Forschungsarbeit enthält keine Empfehlung, die kirchliche Sexualmoral auf den Prüfstand zu stellen. Die Eingangsthese des Positionspapiers, die katholische Sexualmoral sei missbrauchsfördernd, ist  eine Fiktion. Die Präventionsbeauftragten haben also durch die MHG-Studie vom Herbst 2018 kein wissenschaftliches Mandat bekommen, die Sexuallehre der Kirche zu ändern. (Ähnliches gilt für den Synodalen Weg, insbesondere das vierte Forum zur kirchlichen Sexualmoral.)

In dem argumentativen Vorgehen vom Präventionsrat bei der Neukonzipierung von Sexualethik und Sexualpädagogik zeigen sich methodische Mängel, die nicht den wissenschaftlichen Standards entsprechen: Wenn externe Autoren die kirchliche Sexualmoral als „rigide und lustfeindlich“ abkanzeln und sie als ein strukturelles Risiko für Missbrauch identifizieren, wird deren Meinung ohne kritische Erörterung von Gegenpositionen als „humanwissenschaftliche Erkenntnisse“ ausgegeben, obwohl die weder logisch nachvollziehbar noch wissenschaftlich validiert sind. Genauso unkritisch stützt man sich positiv auf die Theorien einer bestimmten Fraktion sexualwissenschaftlicher Autoren wie Michel Foucault und vor allem Uwe Sielert. Deren Positionen werden mit Argumenten von Zeitgenossenschaft und Aktualität plausibilisiert, aber nicht einer argumentativen Kritik unterzogen – von Prüfung im „Licht des Evangeliums“ ganz zu schweigen. Die Umgehung von Kritik entspricht nicht dem methodischen Ansatz wissenschaftlichen Vorgehens, nach dem eine Theorie erst dann Evidenz mit belastbaren Erkenntnissen beanspruchen kann, wenn sie im Feuer von Kritik und Falsifizierung geläutert wurde.

Schließlich erweisen sich die Zielbegriffe der neuen Sexualpädagogik und ihre Anwendung als fragwürdig mit letztlich kontraproduktiven Folgen.

Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für Kinder?

Die Rahmenordnung der Deutschen Bischofskonferenz zur „Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen“ hatte die Vorgabe gemacht, dass in allen pädagogischen Einrichtungen der Kirche eine Sexualpädagogik der „Selbstbestimmtheit“ verfolgt werde. Die Präventionsbeauftragten stellen ein Programm der „sexuellen Bildung“ vor, bei dem durch die Vermittlung vom Recht auf Sexualität sowie der genannten (sexuellen) Selbstbestimmung (S. 12 des Papiers) präventive Effekte erzielt werden sollen. Ähnliche Formulierungen finden sich auch im Synodalpapier zur Sexualmoral.

Der Begriff ‚Selbstbestimmung‘ ist aus einem fundamentalen Rechtsgrundsatz abgeleitet. Er beinhaltet das Recht der menschlichen Selbstverfügung zur freien Entfaltung der Person entsprechend dem Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes. Als Abwehrrecht soll es vor Fremdverfügung etwa durch Sklaverei und Ausbeutung der Menschen schützen.
Andererseits wird dieses Grundrecht heute durch unzulässige Anwendung oder missbräuchliche Übertragung entleert und teilweise ins Gegenteil verkehrt:
Unter dem Titel ‚selbstbestimmtes Sterben‘ wird die Legitimierung von Euthanasie und Beihilfe zum Suizid gerechtfertigt. Aus der Formel: Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper folgern liberale und feministische Kreise ein Recht auf Abtreibung, somit die Tötung ungeborener Kinder.

Auch für den Begriff der ‚sexuellen Selbstbestimmung‘ ist eine zwiespältige Anwendung feststellbar. Im Kontext der Sexualität ist das Recht der Selbstbestimmung als ein Abwehrrecht gegen physische Gewalt weitgehend gesellschaftlich anerkannt. Bei der Ächtung aller Arten von psychischer Überwältigung und sozial strukturierten Zwangsmaßnahmen ist dagegen noch viel Aufklärung und Prävention erforderlich:
Im Rahmen der me-too-Debatte ist die Norm, dass bei sexueller Beziehungsanbahnung das „Nein“ einer Partnerin jede weitere sexuelle Zudringlichkeit zum Tabu macht, noch längst nicht gesellschaftlich verankert. In traditionsorientierten Migrantenmilieus werden Mädchen und junge Frauen mit archaischen Zwangsheiraten das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verweigert. Historisch war es auch bei den germanischen Völkern eine weitverbreitete Praxis, dass über die Verheiratung einer Frau allein der begehrende Mann oder die Herkunftsfamilie entschied. Dagegen hat die Kirche das Rechtsprinzip eingeführt, dass ohne die öffentliche Zustimmung der Frau eine Eheschließung nicht als legitim anerkannt ist.

Nach der Darstellung von berechtigter Anwendung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts bei Erwachsenen ist zu erörtern, ob dieses Recht auch in gleicher Weise für Kinder gelten soll, insbesondere in Verbindung mit dem „Recht auf Sexualität“, das die Präventionsbeauftragten im Positionspapier postulieren. In den folgenden Ausführungen soll geprüft werden, ob diese zentralen Zielbegriffe angemessen und geeignet sind für Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen. Des Weiteren ist der behaupteten präventiven Wirkung von sexueller Bildung nachzugehen.

Der im Positionspapier ausführlich zitierte Michel Foucault bejaht das Selbstbestimmungsrecht von Kindern, etwa um einvernehmliche Sexualbeziehungen zu Erwachsenen aufnehmen zu können.

1977 hatte der 1984 verstorbene Philosoph mit anderen französischen Elitedenkern wie Satre und Derrida lautstark die Abschaffung des strafbewehrten Verbots von Sexualität mit Kindern unter 15 Jahren gefordert. In einem späteren Interview beschimpfte er gar den gesetzlichen Schutz der Kinder vor sexuellen Übergriffen als inakzeptablen Missbrauch staatlicher Macht. Seine Begründungen dazu lauteten:

▪ Kinder zeigten ein sexuelles Begehren, das auf andere Kinder und auch auf Erwachsene gerichtet sein könne.
▪ Kinder seien dazu befähigt, eigenverantwortlich und selbstbestimmt ihre Zustimmung zu Geschlechtsverkehr mit Erwachsenen zu geben.
▪ Kinder seien in der Lage, bei bestehenden Sexualbeziehungen mit Erwachsenen ausreichend klar anzugeben, mit welchem Grad an Zustimmung sie eingewilligt hätten und welcher Grad an Gewalt gegebenenfalls angewandt wurde.

Foucaults Erläuterungen zeigen die Problematik der geforderten sexuellen Selbstbestimmung von Kindern. Auch den kirchlichen Präventionsfachleuten müsste bekannt sein, dass die meisten Missbrauchstäter auf eine einvernehmliche Sexualbeziehung mit Kindern hinarbeiten. Die Täterstrategien sind mit Vertrauensanbahnung und gezeigtem Wohlwollen auf ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung der Kinder zu sexualisierten Reden und Handlungen orientiert, wie Foucault das beschrieben hat. Bei solchen Fällen zutraulichen Vorgehens spielt das vermeintliche Recht der Kinder auf sexuelle Selbstbestimmung den Tätern in die Hände. Denn in diesen asymmetrischen Beziehungen haben Kinder keine Chance bei der Überlegenheit von Erwachsenen.  

In kritischer Auseinandersetzung mit Foucaults Beschreibungen können die Folgerungen und Forderungen zu intergenerativen Beziehungen nur lauten:
Jede sexualisierte Beziehungsanbahnung von Erwachsenen mit Kindern, gleich ob gewalttätig oder einvernehmlich, muss als Verbrechen geächtet werden, ebenfalls jede Akzeptanz von sexuellem Begehren von Kindern gegenüber Erwachsenen, wie es Cohn-Bendit in seinem Kinderladenbericht beschrieb.  Jede Zustimmung von Kindern zu sexuellen Beziehungen zu Erwachsenen muss als strukturell erzwungen angesehen werden, was sich aus dem unaufhebbaren Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern ergibt.
Daraus folgt: Die Forderung nach einem subjektiven Recht der Kinder auf sexuelle Selbstbestimmung ist nicht nur sinnlos, da die Kinder es nicht als Abwehrrecht wahrnehmen können, sondern auch objektiv gefährdend für sie, weil es den Missbrauchstätern entgegenarbeitet.

Das gefährliche Trugbild vom Postulat einer kindlichen Selbstbestimmung kann auch an einer weitverbreiteten pädagogischen Übung im Präventionsunterricht entlarvt werden. Dabei wird den Grundschülern ein Blatt mit den Umrissen eines Körpers ausgegeben. Darauf sollen sie die Körperstellen markieren, bei denen Fremdkontakte angenehm sind und solche von unangenehmen Berührungen. Täter wissen natürlich von diesen Übungen. Sobald sie mit den Kindern im Kontakt gekommen sind, spielen sie das gegenseitige Betasten der angenehmen Körperstellen durch, um gegebenenfalls die Grenzen der Zustimmung weiter zu verschieben.     

Die Sprecher der Präventionsbeauftragten haben die These zurückgewiesen, das Positionspapier würde sich auf die Theorien von Foucault stützen. Die zitierte Stelle sei nur ein austauschbares Beispiel für den philosophischen Diskurs zum Zusammenhang von Macht und Sexualität. Diese Einschätzung verkennt allerdings die Bedeutung von Foucault. Mit seinem Klassiker von 1976, Sexualität und Wahrheit, hat er die sexualpolitischen Diskurse in Europa entscheidend geprägt.

 Auch in dem Papier der Präventionsbeauftragten finden sich Positionen des französischen Philosophen – nicht zuletzt das vermeintliche Kinderrecht auf sexuelle Selbstbestimmung.

Bei deutschen Theologen sind die Einflusslinien des Denkens von Foucault ebenfalls nachweisbar. Das Synodenpapier zur Sexualmoral hat eine Passage des Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz übernommen, in der dieser mit großem Pathos die sexuelle Selbstbestimmung (auch der Minderjährigen) als staatliches Rechtsgut feiert, dem sich die Kirche bei der Verurteilung des Kindesmissbrauchs anschließen müsse. Ziemlich umfassend übernimmt der Osnabrücker Moraltheologe Elmar Kos den foucaultschen Denkansatz, wie er unten aufgezeigt wird: Die Kirche müsse ihren Anspruch, Regeln und Gebote für Sexualität und Ehe zu geben, vollständig aufgeben. Denn Fragen der Sexualität und ihrer Lebensformen seien ausschließlich der subjektiven Entscheidung der einzelnen Menschen zu überlassen, die damit kreativ, vielfältig und auch queer umgehen könnten. Deshalb müsse sich die Kirche auf das Angebot von guten „Ratschlägen und Orientierungen“ zurückziehen. Sexualität wird durch Kos losgelöst von personaler Liebe als „Wert an sich“ substanzialisiert.[3]

In der öffentlichen kirchlich-theologischen Debatte wird der Quellenbezug auf Foucault vielfach nicht hergestellt, sondern eher mit dem Hinweis auf neuere „wissenschaftliche Forschungen und Erkenntnisse“ verschleiert. In dieser Hinsicht ist es zu begrüßen, dass das Positionspapier seine Referenz auf den französischen Philosophen transparent macht und damit überhaupt erst der notwendigen kritischen Auseinandersetzung den Boden bereitet. Die fehlt bisher in der deutschen Moraltheologie weitgehend. Dabei könnte man sich schon auf eine breite Palette internationaler Kritik stützen, die Foucaults Methode und Ergebnisse als ideologisch, subjektivistisch, konstruktivistisch, neoliberal und mit anderen Kategorien charakterisiert.[4]

Michel Foucault gilt als Poststrukturalist, der die normativen Wissensstrukturen („Episteme“) historisch und aktuell dekonstruierte mit dem Ziel, insbesondere sexualpolitischen Normsysteme (wie etwa die sogenannte Heteronormativität) und ihre Machtagenturen in Gesellschaft und Staat zurückzudrängen, um den Subjekten eine größtmögliche Entfaltung ihrer diversen Lüste zu ermöglichen. Der französische Großdenker lebte bis zu seinem AIDS-Tod 1984 das normfreie Leben seiner (Homo-)Sexualität am eigenen Leibe aus. Sein Programm wirkt bis heute nach in dem starken gesellschaftlichen Trend, sich von der biologischen Zweigeschlechtlichkeit zu lösen sowie Ehe und Familie zu denaturalisieren. Das „starke Ich“ der Individuen soll sich nach Belieben seine Identität konstruieren können. Eine Folge der Subjektivierung von Sexualität besteht in der Frühsexualisierung der Kinder, die so früh wie möglich in alle möglichen Lustempfindungen und Identitäten eingeführt werden sollen.[5]

Dieses Programm von Foucault darf unmöglich zur Richtschnur für eine christliche Sexualmoral werden. Auch ohne die kritische Gesamtwürdigung hätte es die Präventionsbeauftragten stutzig machen müssen, dass der französische Philosoph das Schutzrecht der Kinder vor sexuellen Übergriffen von Erwachsenen aushebeln wollte. Diese Tatsache und seine oben erwähnten Rechtfertigungen sind in Fachkreisen schon lange bekannt. Ein Autor, der die unaufhebbare Machtasymmetrie zwischen Kindern und Erwachsenen nicht erkennen kann oder will, ist als Wissenschaftler zum Thema Sexualität und Macht disqualifiziert und kompromittiert – insbesondere für ein kirchliches Präventionspapier.

Ein Kinderrecht auf Sexualität?

Neben dem vermeintlichen Recht auf sexuelle Selbstbestimmung postulieren die Präventionsbeauftragten für Kinder ein „Recht auf Sexualität“ (S. 12 des Papiers). Auch diese Position kann auf Foucault zurückgeführt werden, der in dem oben erwähnten Interview von einem eigenständigen sexuellen Begehren der Kinder ausging. Mit der These von kindlicher Sexualität geht die Behauptung einher, dass Kinder vom Kleinkindalter an bis zum Ende der Latenzzeit sexuelle Bedürfnisse und Triebkräfte hätten. Die würden sich in kindlichem Sexualverhalten ausdrücken. Dieses Theorem ist von dem umstrittenen Sexualwissenschaftler Alfred Charles Kinsey vor 70 Jahren aufgebracht worden. Er publizierte Studien, nach denen schon kleinere Kinder orgasmusfähig seien, Jungen sogar mehrfach hintereinander. Doch diese Ergebnisse waren durch Missbrauchsmanipulationen von Pädophilen erzeugt worden. Kinseys ‚wissenschaftliche Studien’ müssen als Fälschungen eingestuft werden.

Gleichwohl haben seine Werke zu einer Schulbildung von zwei Generationen von Kinseyanern beigetragen. In Deutschland wurde Helmut Kentler zum Theorievater der frühkindlichen Sexualempfindungen. Sein Schüler, der Kieler Professor Uwe Sielert, definierte in einem Vortrag von 2005 zum Konzept der sexuellen Bildung die Sexualität als zentrale „Lebensenergie“. Sie gehöre „zum Menschen von Anfang an, schon zum Säugling, zum Kind. (…) Sie prägt den Kern des kindlichen Selbst (des Selbstkonzepts, Selbstwertgefühl, der Selbstwirksamkeit). Sexualität verläuft sehr individuell – eigensinnig.“[6] (Bei der letztgenannten Kategorie der Eigensinnigkeit bezog sich Sielert ausdrücklich auf die „emanzipatorische“ Sexualpädagogik von Helmut Kentler.) Die Überhöhung der Sexualität als Wesenskern des Menschen gab er später als Ergebnis „wissenschaftlicher Evidenz“ aus[7] – wohl aus Kinseys und Kentlers Werken. Auf dieser zweifelhaften Grundlage „humanwissenschaftlicher Erkenntnisse“ baute er seine Forderung nach frühsexualisierender Bildung in Kindertagesstätten und Grundschule auf.

In Sielerts Schriften gibt es starke Indizien dafür, dass er die sexuelle Bedürfnis- und Erfahrungswelt von Erwachsenen auf Kinder zurückprojizierte. Das vierte Kapitel seines oben erwähnten Vortrags betitelt er ganz offen: „In Kindern begegnen Erwachsene sich selbst“ (mit ihrem sexuellen Begehren). In einem weiteren Zitat schreibt er Kindern sexuelle Bedürfnisse nach „Lusterfahrungen und zärtlichen Gefühlen“ zu. Noch deutlicher wird der Projektionscharakter in seinen weiteren Ausführungen. Bei Erwachsenen seien sexuelle Aktivitäten vielfach mit „Bindungs- und Beziehungswünschen“ gekoppelt. Genau das unterstellt Sielert schon den Kleinen in Kindergarten und Grundschule: Als wenn Freundschaften unter Kindern mit sexuellen Gefühlen und Bedürfnissen einhergingen!

Selbst wenn Kinder Handlungen zeigen, die bei geschlechtsreifen Personen als ‚sexuelles Verhalten’ angesehen werden, so sind die bei vorpubertären Kindern aus einem anderen Kontext zu deuten: Gegenseitiges Beschauen, Berühren, Hautkontakte, Ansätze von Schmusen etc. geschehen eben nicht aus sexuellen Triebkräften, sondern aus kindlicher Neugier, Nachahmung von Erwachsenen und anderen Motiven.

Fragwürdige Frühsexualisierung in den Lehrplänen für die Grundschule

Inzwischen ist die Theorie von der frühkindlichen Sexualität als Pädagogik der Frühsexualisierung in die sexualpädagogischen Lehrpläne der Länder Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfahlen u. a. eingegangen. In der Stellungnahme der Präventionsbeauftragten vom 17. 5. wird diese politische Vorgabe als Bestätigung für ihre Positionen gewertet statt die kritischen Einwände der Elternvereine jener Länder zu erörtern.

Die Sexualwissenschaftlerin Prof. Karla Etschenberg zeigte die Frühsexualisierungstendenzen a la Sielert auch in der hessischen Sexualerziehungsrichtlinie auf.[8] Das im alten Lehrplan vorgesehene Thema: „Ich mag mich, ich mag dich“ bekomme im neuen durch den Zusatz „kindliches Sexualverhalten“ einen anderen - fragwürdigen – Akzent: „Da spürt man die Tendenz, kindliches Verhalten als sexuell zu interpretieren.“ Denn in diesem Fall wird das kindliche ‚Mögen’ eines anderen Kindes in Zusammenhang gebracht mit sexuell getöntem Verhalten oder gar Sexualbegehren.

Gegen die Einführung der Frühsexualisierung ihrer Kinder wehrten sich damals alle hessischen Elternvertretungen. Denn es ist weder sachlogisch noch wissenschaftlich begründet, wenn bei Kindern vor der Pubertät bestimmte kindliche Handlungen als „kindliches Sexualverhalten“ ausgedeutet bzw. den Kindern eingeredet werden. 

Noch viel weniger ist es berechtigt, vorpubertären Kindern ein „Recht auf Sexualität“ zuzuschreiben. Das zweite Kapitel des Lehrplans enthält die Forderung: „Respekt der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen“. Frau Etschenberg hält diese fatale Forderung (siehe oben) für das Einfallstor der Frühsexualisierung.

Die entsprechende Rechtfertigung lautet etwa: Der Respekt vor dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht der Kinder würde es erfordern, ihnen vorbehaltlose Informationen über alles erdenklich Sexuelle zu geben. Weitere Folgerungen von Sexualpädagogen lauten, über die Informationen hinaus müsste man den Kindern Anregungen zu sexuellen Handlungen von frühester Kindheit an geben. Nach dem Willen von Sexualpädagogen sollen Kinder schon ab dem Kindergartenalter exzessiv mit sexuellen Informationen und Ermunterungen zu sexueller Neugierde gedrängt werden. Das geschieht z. B. durch das Arrangieren von Situationen, in denen das Interesse auf die eigenen Geschlechtsorgane oder die von anderen geleitet wird. So werden die Kinder aufgefordert, sich nackt vor oder auf Spiegel zu stellen, um sie dann mit Erklärungen zu den Genitalien zu überschütten. Diese schamverletzende Frühsexualisierung wollen die meisten Eltern nicht. Der vorherige Lehrplan hatte noch die angemessene Berücksichtigung des „natürlichen Schamgefühls“ angemahnt. Die neue Richtlinie enthält eine solche Barriere der sexuellen Grenzverletzung nicht mehr.

Sexuelle Bildung als Missbrauchsprävention?

Sowohl bei der speziellen Frühsexualisierung als auch der sexuellen Bildung allgemein erwartet man „präventive Wirkungen“. Die Basisbehauptung von Präventionstheoretiker aus der Sielert-Schule lautet: Nur Kinder mit Kenntnissen und Sprachkompetenz zu sexuellen Vorgängen könnten sich angemessen wehren oder gegebenenfalls Missbräuche mitteilen – so auch die Auffassung des Positionspapiers mit der Formel: „emanzipatorische Selbstermächtigung“ (S. 7). Diese Zuschreibung basiert auf der altbekannten Präventionsstrategie nach dem Motto: „Kinder stark machen“. Solche Erziehungsziele wie „Ich-Stärke, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmtheit“ würden das Selbstwertgefühl der Kinder heben und damit „wesentlich zur Vermeidung sexueller Übergriffe beitragen“, heißt es in einer bayrischen Richtlinie zur Familien- und Sexualerziehung. Ähnlich formuliert es die hessische Handreichung: „Die Kinder sind gegen mögliches Unrecht zu wappnen, indem ihnen eigene Bedürfnisse, Werte und Recht bewusst gemacht werden und dadurch ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstsicherheit gestärkt werden.“

Selbstverständlich ist ein allgemein-pädagogisches Programm zur Stärkung der kindlichen Selbstkompetenz sinnvoll. Aber ob das Konzept der sogenannten Individual- und Lebenskompetenz zur Vermeidung sexueller Übergriffe „wesentlich“ beiträgt, ist fraglich.

Bei der früheren Drogen- und Tabak-Prävention hat dieser Ansatz jedenfalls keine nachweisbaren Wirkungen gezeigt und ist inzwischen aufgegeben.

Aber auch die spezifische Prävention durch Sexualerziehung ist umstritten. Sie wurde schon im Jahre 2000 in einer Studie[9] kritisiert, hauptsächlich mit der Argumentation: Bei der sogenannten subjektiven Missbrauchsprävention werde die Verantwortung für potentiellen Missbrauch auf die Kinder abgeschoben. Die Kinder aber seien darin völlig überfordert. So belegt eine amerikanische Studie das Unvermögen von Kindern, sich vorzustellen, von Erwachsenen, die sie gut kennen, missbraucht zu werden. Dazu kommen die Vielfalt und Raffinesse der Täterstrategien, gegenüber denen die Kinder immer unterlegen sind. Nach Einschätzung des erfahrenen holländischen Tätertherapeuten Ruud Bullens ist es „für ein Kind praktisch unmöglich, sich gegen den sexuellen Missbrauch von Erwachsenen zu wehren“. Das sind Ergebnisse von Studien und strukturellen Überlegungen. Darüber hinaus gibt es keine positiven Belege durch empirische Untersuchungen dafür, dass Programme subjektiver Missbrauchsprävention durch sexuelle Bildung bei Kindern wirksam sind.

Damit sind die substantiellen Mängel subjektiver Prävention aufgezeigt. Ein Bericht des SPIEGELS Nr. 2/2017 deckte schlagartig das Unzureichende dieses Ansatzes auf: „Der neunjährige Tim hat mehrfach zu seinem Fußballtrainer ‚Stopp!’ gesagt“. Tim konnte den fortgesetzten Missbrauch nicht aufhalten. Erst als er seiner Mutter sagte: „Ich habe keine Lust mehr auf Fußball, weil der Trainer mich immer anfasst“, konnten Eltern, Polizei und Staatsanwalt dem Missbrauchstrainer das Handwerk legen.

Es ist das Kernanliegen des Positionspapiers, sexuelle Bildung als eine notwendige Ergänzung zu der bisherigen institutionellen Präventionsarbeit der Kirche darzustellen. Begründet wird das mit der vollmundigen These, dass die sprachliche und sachliche Kompetenzvermittlung in Sachen Sexualität an sich schon eine präventive Wirkung hätte. Hinweise auf Belegstudien zu dieser These sucht man vergebens. Und auch mit den bisherigen Erfahrungen und kritischen Studien zur Prävention durch Sexualerziehung (siehe oben) hat man sich offensichtlich nicht auseinandergesetzt. Es reicht den Autoren wohl die Referenz auf die Behauptungen von Uwe Sielert und die Thesenpapiere der Gesellschaft für Sexualpädagogik. 

Neben den starken Hinweisen für die Ineffizienz von Missbrauchsprävention durch Sexualerziehung ist noch zwei weiteren Einwänden nachzugehen:

- Die Frühsexualisierung bei vorpubertären Kindern ist ambivalent-verführerisch: Wenn Pädagogen ausführlich das Interesse auf Geschlechtsteile sowie sexuelle Themen und Praktiken lenken, kann das durchaus förderlich sein für pädophile Anbahnungen. 
- Die sexuelle Bildung nach den Sexualtheorien der Kentler-Sielert-Schule ist mit ihren Grenzüberschreitungen selbst dem Vorwurf des Kindesmissbrauchs ausgesetzt.

Diese Hypothesen werden in den folgenden Kapiteln erörtert.

Irrwege deutscher Sexualwissenschaftler

Parallel zu Frankreich entwickelte sich in Deutschland aus der sexuellen Revolution der 68er eine freudo-marxistische Sexpol-Bewegung. Besonders lautstark traten Sexualwissenschaftler in der Öffentlichkeit auf. Damals renommierte Akademiker wie Wolff, Lautmann, Bernard, Sandfort und Helmut Kentler propagierten in den 70er Jahren die These, dass einvernehmliche Sexualbeziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern letzteren nicht schaden würden. Dieses humanwissenschaftliche Fehlurteil zur Rechtfertigung von Kindersex hatte maßgeblichen Einfluss auf die Partei der Grünen, die in den 80er Jahren die Abschaffung des gesetzlichen Kinderschutzes verlangten. Volker Beck forderte als sexualpolitischer Sprecher der Grünen 1988 die „Entkriminalisierung von Pädosexualität“. Später erklärte er seine Haltung mit den damaligen „humanwissenschaftlichen Erkenntnissen“. Noch bis 2010 förderte die Humanistische Union die pädophile Szene. Erst im letzten Jahrzehnt haben Uni-Studien die schändliche Rolle Helmut Kentlers als Pädophilenaktivist und Drahtzieher pädokrimineller Netzwerke aufgedeckt. Die destruktiven Folgen seiner emanzipatorisch-antifaschistischen Sexuallehre sind inzwischen bekannt.

Gleichwohl führen heutige Sexualwissenschaftler wie Sielert, Valtl, Schmidt, Henningsen, Tuider u. a. als Schülergeneration Kentlers dessen hedonistische Sexualitätsansätze weiter. Alle genannten Autoren werden in dem Präventionspapier in Text und Literaturverzeichnis aufgeführt. Entgegen der Behauptung der Präventionsbeauftragten haben sich Sielert und Co. zwar von der Pädophilen-Praxis Kentlers distanziert, nicht aber inhaltlich von seinem sexualpädagogischen Ansatz. Noch in der Festschrift für den Kieler Universitätsprofessor Uwe Sielert von 2009 wurde Helmut Kentler als „prägend für die Sexualpädagogik in der BRD“ herausgestellt. Sielert baute das links-liberale Sexualkonzept von Kentler zur „neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik“ aus. Nach diesem Ansatz sollen die Individuen ihre sexuellen Triebenergien grenzenlos ausschöpfen zur größtmöglichen Luststeigerung. Er propagiert die Instrumentalisierung des Körpers zur Lustmaximierung einschließlich von Masturbation bei Kindern und frühestmöglichem Geschlechtsverkehr.

Später erweiterte Sielert sein Programm zu dem Konzept der „sexuellen Bildung“, das auch die Präventionsbeauftragten in ihrem Positionspapier als Masterplan für Sexualpädagogik bewerben. Danach sollen alle „repressiven“ Grundnormen im Geschlechterbereich verwischt und verwirrt werden. Insbesondere sollen Ehe und Familie als Kernfamilie „denaturalisiert“ und die Geschlechterdualität von Mann und Frau in eine Gendervielfalt aufgelöst werden. Schließlich sollen die „intergenerativen Sexualitätsnormen zwischen Kindern und Erwachsenen“ aufgeweicht werden. So klingt Rechtfertigung von Pädophilie im Wissenschaftsjargon.

In der Praxisanleitung empfiehlt Sielert den Eltern, ihre „Kinder lustvoll zu streicheln“, damit schon Kleinkinder „die Lust an sich selbst entdecken“.[10]  In Kitas und Schulen soll die pädagogische Frühsexualisierung der Kinder mit luststimulierenden Gesprächsimpulsen, Bildern und Handlungen fortgeführt werden.

Ist es nicht absurd, in einem kirchlichen Papier zur Missbrauchsprävention das sexualpädagogische Konzept eines Autors zu übernehmen, der pädophile Übergriffe durch Eltern und Erzieher empfiehlt?

 

Präventiver Ansatz mit schamverletzenden und missbrauchsfördernden Ergebnissen

Kein Geringerer als der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, moniert an den Beiträgen von Autoren der Sielert-Schule, dass sie nicht „sensibel mit den Grenzen von Intimität und Scham“ von Schülern umgehen. Das Methodenbuch zu der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ lasse die gebotene Achtsamkeit vermissen, wenn Schüler über ihre eigenen sexuellen Erfahrungen und Phantasien sprechen sollen. Die proaktive Hinführung der Kinder zu sexuellen Themen und Praktiken begünstigt die „bekannte Täterstrategie, Kinder in Gespräche mit sexuellen Themen zu verwickeln und ihre schützenden Widerstände mit falscher Scham abzutun. Bei Mädchen und Jungen, die Grenzüberschreitungen gewohnt und deshalb desensibilisiert sind, haben die Täter ein leichtes Spiel.“[11] 

In einer luziden Analyse hat kürzlich Prof. em. Dr. Karla Etschenberg in zwei Beiträgen die Widersprüche der Sielert’schen Sexualpädagogik zwischen emanzipatorisch-präventivem Anspruch und missbrauchsförderndem Ergebnis aufgezeigt. Sie erläutert in dem Aufsatz: „Helmut Kentlers Erbe und das besondere sexualpädagogische Konzept gegen den sexuellen Missbrauch“ in acht Schritten, wie mit dem emanzipatorischen Ansatz der sexuellen Bildung durch frühsexualisierende Handlungsanleitung, Netzwerkverbreitung und Diffamierung der Kritiker in der Öffentlichkeit der Boden für Missbrauchsförderung bereitet wird.[12]  In der Ausarbeitung des Themas zu einem Videovortrag reichert sie die Textvariante mit weiteren Zitaten sowie anschaulichen Bildern und Vergleichen an.

Schon im Jahr 2000 hatte eine Dozentin für Sexualpädagogik Sielerts Konzept der sexuellen Bildung in einen „Ratgeber für Eltern zur kindlichen Sexualentwicklung“ umgesetzt. Die Autorin gehört neben Sielert zum wissenschaftlichen Beirat des Dortmunder Instituts für Sexualpädagogik. In der von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verteilten Broschüre sind mehrere Stellen zu finden, die als „Einladung zur Pädophilie angesehen werden können“. Das gibt die Autorin in einem Spiegel-Interview auch selbst zu, versucht aber die Zuarbeit ihrer Methode zu pädophilen Strategien zu verharmlosen.[13]  Nach Protesten nahm die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen die Broschüre als „missverständlich und zweideutig“ aus dem Programm der BZgA.

Zusammenfassung der Kritik am Positionspapier der Präventionsbeauftragten:
- Der Gewährsautor für das Programm der sexuellen Bildung, Uwe Sielert, steht in dringendem Verdacht, in verschiedenen Schriften pädophile Übergriffe durch Eltern und Erzieher empfohlen zu haben.
- Der sexualpädagogische Ansatz der Sielert-Schule wird als emanzipatiorisch-präventiv ausgegeben, tatsächlich arbeitet er den Handlungsstrategien der Täter in die Hände und zeitigt so missbrauchsfördernde Ergebnisse.
- Nach dem  anthropologischen Rahmenkonzept Sielerts sollen die Individuen ihren Körper zur Lustmaximierung nutzen einschließlich von Masturbation bei Kindern und frühestmöglichem Geschlechtsverkehr. Das ist unvereinbar mit dem christlichen Erziehungsparadigma zu personaler Liebe, Bindungsfähigkeit, Ehe und Familie.

Übergriffige Sexualpädagogik verdrängt die katholischen Werte von Liebe, Ehe und Familie

Trotz der pädophilen Kompromittierung beherrscht die Sielert-Schule den Hauptstrom der sexualpädagogischen Literatur und legte deren Standards im deutschsprachigen Raum fest. Besonders einflussreich ist Sielert als Mitbegründer und Vorstand der „Gesellschaft für Sexualpädagogik“ (GSP). Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verbreitet in ihren Medien die libertäre und übergriffige Sexualpädagogik der GSP. Auch in Teilen der Kirche konnte sie einsickern, was sich etwa 2016 bei der Fachtagung im Erzbistum Berlin über „Sexualpädagogik unter dem Dach der Kirche“ zeigte.

Dort hatte die GSP-zertifizierte Sexualpädagogin Ann-Kathrin Kahle einen Grundlagentext von Sielert vorgestellt. Seit 2015 ist sie Präventionsbeauftragte des Bistums Münster. In einem Sammelband von 2016 zu „Sexualpädagogik kontrovers“, im Literaturverzeichnis des Positionspapiers angegeben, hat sie mit dem engeren Kreis der Sielertschule wie Tuider, Timmermanns, Henningsen u. a. publiziert. Kahle ist eine Sprecherin des ‚Arbeitskreises sexueller Bildung der Bundeskonferenz der diözesanen Präventionsbeauftragten‘. Vermutlich gehört sie zum Autorenkreis des vorgestellten Textes. Jedenfalls wird in einer „Stellungnahme“ der Präventionsbeauftragten vom 17. 5. 2021 ausdrücklich bestätigt, dass die Konzepte der Sielert’schen Gesellschaft für Sexualpädagogik in dem Positionspapier berücksichtigt wurden. 

Der Elternverein Nordrhein-Westfalen hat kürzlich in einem Offenen Brief an die Deutsche Bischofskonferenz mit deutlichen Worten gegen das Positionspapier protestiert. Die Elternvertreter verweisen darauf, dass sich unter dem notwendigen Auftrag zur Missbrauchsprävention mit der Übernahme des Sielert-Konzeptes von neo-emanzipatorischer Sexualbildung pädophilnahe Sexualpädagogen im Raum der Kirche breitgemacht haben. Außerdem beklagen sie, dass in dem Papier die katholischen Werte von Ehe und Familie aus Vater, Mutter und Kind(ern) sowie lebenslange Bindung und Treue als Klischees und überholte Normen abgewertet werden. Die besorgten Eltern fordern, dass

  • die Deutsche Bischofskonferenz den eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Sexualpädagogik stoppen und
  • das befremdliche Positionspapier verwerfen sollte. Weiterhin erwarten sie, dass
  • sich die Bischöfe wieder auf die katholischen Werte besinnen mit der Orientierung auf Ehe und Familie als Ziel der Sexualpädagogik, die einen „ganzheitlichen, entwicklungssensiblen und die Schamgrenzen der Kinder“ achtenden Ansatz verfolgen müsse.

Die Präventionsbeauftragten machen sich die Genderideologie zu eigen, wenn sie die Sexualität als eine beliebig gestaltbare gesellschaftliche „Konstruktion“ ansehen. Für die Eltern dagegen ist die Sexualität von Mann und Frau die „identitätsstiftende Grundlage der Person, Körpersprache der Liebe, Zeichen und Kraft der Bindung, Quelle des Lebens und natürlich auch der Lust und des Glücks“.[14] Nach christlicher Auffassung ist die von der biologischen Natur bzw. der Schöpfungsordnung gegebene Sexualität in den Dienst der Liebe und Treue, der Weitergabe des Lebens und der familiären Bindung zu stellen.

Auf die Kritik des Elternvereins haben der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Autoren des Positionspapiers und andere Präventionsbeauftragte teilweise gereizt reagiert. In verschiedenen Stellungnahmen erscheinen folgende Sprachregelungen von Rechtfertigungen:
- Das Positionspapier stütze sich nicht auf die genannten Autoren Foucault und Sielert. Die würden nur als Beispiele für die in der Fachwelt üblichen Diskurse und wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgeführt. Das stimmt zumindest für Uwe Sielert nicht, an dessen Konzept der sexuellen Bildung sowie der thematischen Ausrichtung an der ‚Gesellschaft für Sexualpädagogik‘ sich die Präventionsbeauftragten ausdrücklich orientieren.
- Man fühlt sich offenbar bestätigt durch den schulischen Sexualerziehungslehrplan in NRW, in dem schon seit längerer Zeit die Positionen der GSP vertreten würden. Dagegen hätte sich der „Elternverein mehrfach kritisch geäußert“ (statt seine Auffassung den staatlichen Programmen anzugleichen?).
- Die dem Positionspapier zugrundeliegenden Präventionsordnung der Deutschen Bischofskonferenz habe die sexualpädagogischen Schlüsselbegriffe wie „Stärkung von Selbstbestimmung und Selbstschutz“ von der staatlichen Aufarbeitungskommission der Bundesregierung übernommen, heißt es rechtfertigend in einem Antwortschreiben.
- Die (katholischen) Positionen des Elternvereins zu Sexualität und Familie, wie sie in den oben zitierten Stellen zum Ausdruck kommen,  seien doch sehr „einseitig und problematisch“. Dabei hätten es die Lebenswirklichkeit und Einsichten der Wissenschaften längst überfällig gemacht, dass die „Kirche ihr Verständnis von und ihr Verhältnis zu Sexualität überdenken muss“.

Der Tenor dieser Rechtfertigungen könnte so zusammengefasst werden: Die katholische Sexualethik und Sexualpädagogik in kirchlichen Einrichtungen sollte sich an den fortschrittlichen Sexualtheorien der akademischen Welt orientieren, nach denen sich die staatlichen Sexualerziehungslehrpläne schon länger ausrichten. Die Kritik des nicht-repräsentativen Elternvereins an dem vorgelegten Plan für sexuelle Bildung und dessen akademischen Gewährsleuten sei für die Präventionsbeauftragten „inhaltlich nicht nachvollziehbar“.

Gutgemeinte Zielsetzungen – mit fatalen Folgen

Im Einleitungssatz der Stellungnahme vom 17. 5. weist die Bundeskonferenz der Präventionsbeauftragten den Vorwurf zurück, „sexuelle Bildung auf einen pädophilen Ansatz stützen zu wollen“. Die Elternvertreter haben jedoch mit keinem Wort den Autoren einen entsprechenden Willen oder gar die Intention zu einem pädophilen Ansatz unterstellt. Man kann den Präventionsbeauftragten durchaus gute subjektive Absichten zugestehen bei ihrem Ziel, durch sexuelle Bildung „die Stärkung der Sprachfähigkeit und Kompetenzerweiterung aller Kinder und Jugendlichen“ erreichen zu wollen. Aber indem sie sich auf die „Erkenntnisse“ der Sielert-Schule stützen, stellen sie ihr gutgemeintes Vorhaben in einen Bezugsrahmen, der objektiv zu kontraproduktiven Ergebnissen führt.

Genau das haben der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung und andere Kritiker der neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik aufgedeckt:

  • Die Heranführung schon kleiner Kinder an sexuelle Themen und Sexualpraktiken arbeitet den Handlungsstrategien der Täter in die Hände (Joh.-Wilhelm Rörig).
  • Die renommierte Pädagogikexpertin Prof. Karla Etschenberg hat die objektiven Widersprüche der Sielert’schen Sexualbildung zwischen emanzipatorisch-präventivem Anspruch und missbrauchsförderndem Ergebnis systematisch dargestellt (siehe oben).
  • Mit der Übertragung der Begriffe wie „Recht auf Sexualität“ und „sexuelle Selbstbestimmung“ (auf S. 12 des Papiers) aus dem Kontext ausgereifter Sexualität von Erwachsenen auf vorpubertäre Kinder und sogar Kleinkinder werden den notorischen Missbrauchstätern Stichworte gegeben und Wege bereitet.
  • Auch die Anleitung und Gewöhnung der Kinder an infantilsexuelle Handlungen bedeuten Zuarbeit zu den Tätern, die nach Vertrauensanbahnung selbstverständlich nur dem Kind ‚angenehme‘ Körperkontakte anstreben.
  • Damit wird sowohl die juristische Definition von Missbrauchshandlungen „gegen den Willen“ der Opfer unterlaufen als auch die viel zu enge präventive Zielorientierung als „Schutz vor sexualisierter Gewalt“. Schon aus der MHG-Studie hätten die Präventionsbeauftragten die Forschungserkenntnisse entnehmen können, dass die meisten Täter auf die sanfte Tour der Einvernehmlichkeit hinarbeiten.
  • Im Übrigen zeigen die säkulare Odenwaldschule wie auch das Bonner Aloisiuskolleg der Jesuiten das prekäre Ergebnis, dass sexualliberale Emanzipationspädagogik nicht nur keine Präventionseffekte erbrachte, sondern als systemische Bedingung den massenhaften Missbrauch beförderte.

Mit der wissenschaftlichen Kritik an dem Konzept der sexuellen Bildung haben sich Sielert und seine Schüler nie ernsthaft auseinandergesetzt – offensichtlich auch nicht die Präventionsbeauftragten. Es gehört aber grundlegend zum wissenschaftlichen Ethos, sich der Kritik von anderen Wissenschaftlern zu stellen – audiatur et altera pars: Man höre auch die andere Seite! Wilhelm-Johann Rörig hatte schon 2015 angemahnt, dass die moderne Sexualpädagogik sich „offensiv der kritischen Prüfung stellen“ müsste. Die verantwortlichen Bischöfe sollten sich und die von ihnen beauftragten Präventionsexperten in die Pflicht nehmen, den wissenschaftlichen Text oder das Aufklärungsvideo von Prof. Etschenberg zu studieren.[15]

 

 



[2] Ein einziger Hinweis auf externe Autoren auf Seite 235 (245) der MHG-Studie

[4] In dem Wikipedia-Artikel über ‚Michel Foucault‘ wird Kritik von Vertretern aus acht Wissenschaftsrichtungen vorgetragen

[5] Referiert nach Silke Edelmann: Die Macht, das Subjekt und das Sexualdispositiv. Michel Foucaults Diskurs der Gegenaufklärung, in: Bulletin. Veröffentlichungen aus dem Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft, Sommer 2021: Sexualethik(en) im Umbruch

[7] Die ZEIT vom 21. 11. 2016

[8] FAZ-Interview vom 24. 9. 2016

[9] Vgl. die Übersichtsstudie von Anitia Heiliger aus dem Jahr 2000: „Chancen und Grenzen von Opfer- und Täterprävention“

[10] Frank Herrath / Uwe Sielert: Elterninformation S. 21, Beilage zu: Lisa und Jan. Ein Aufklärungsbuch und ihre Eltern, Beltz-Verlag 1991

[11] Der Kommentar von Johannes-Wilhelm Rörig in der taz vom 16. 2. 2015 wird deshalb ausführlich zitiert, weil die Präventionsbeauftragten eine isolierte Kurzzitation als ‚aus dem Zusammenhang gerissen‘ monieren.

[13] Interview mit Ina-Maria Philipps auf Spiegel online, 6. August 2007

[15] Vortrag von Prof. Dr. Karla Etschenberg auf dem Online-Symposium der ‚Demo für alle‘ mit dem Titel „Heikle Beziehungen: Sexualpädagogik und Kindesmissbrauch“ am 17. April 2021; siehe: https://symposium2021.de/videos/