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Neuzeitliche Kontroversen zu Politik und Kirche (2)                                             3.8.2023

Kriegs- und Herrschaftstheorien zu Beginn der Neuzeit

Aus Anlass des Kriegs in der Ukraine sollen die frühneuzeitlichen Kontroversen über ethische Berechtigung und Begrenzung von Krieg und Kriegsführung reflektiert werden. 

Die europäische Zivilisation ist über die Jahrhunderte in mehreren Schüben durch einen komplexen Prozess der Aneignung, Ausscheidung und Verwandlung aus dem reichen Erbe der hellenistisch-römischen Kultur gewachsen. Bei dieser Herausbildung der europäischen Kultur sind etwa die meisten Ansätze der Philosophien von Platon und Aristoteles übernommen, dagegen deren Theoreme über die antike Sklaverei und Kriegsführung abgelehnt und ausgeschieden worden. Es war ausgerechnet die vielgerühmte Renaissance, in der die letztgenannten Praktiken aus dem barbarischen Sektor der Antike eine inhumanistische Wiedergeburt erlebten.

Um die ethische Haltung zu Krieg und Kriegsführung in der früheuropäischen Geschichte geht es im ersten Teil des folgenden Beitrags.

I. Das klassische Griechenland war zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, dass nur den Individuen der damaligen ‚zivilisierten Völker‘ der Status des Menschseins zustehe. Angehörige der sogenannten Barbaren galten als untermenschliche Wesen ohne Rechte. Aus dieser Welt- und Menschensicht folgerte der Philosoph Platon: Bei Angriffen unvernünftiger Barbaren sei „nicht nur der Sieg zur Herstellung von gerechtem Frieden, sondern die Vernichtung der Feinde erforderlich“. Nach Aristoteles waren barbarische Völker entsprechend ihrer körperlichen Konstitution zum Sklavendasein bestimmt. Daher sei ihre kriegerische Unterwerfung gerechtfertigt „als eine natürliche Kriegskunst wie die Jagd“ auf Tiere (zitiert aus dem Wikipedia-Artikel zum ‚Gerechten Krieg‘).

Die Römer schwächten die Verachtung gegenüber den Barbaren ab, gingen aber in der Praxis gegen ihre Kriegsgegner höchst barbarisch vor: Im Jahre 146 v. Chr. zerstörten die Römer Karthago als Hauptstadt ihres größten Wirtschafskonkurrenten. Dabei töteten sie 60.000 Soldaten und Zivilisten, 50.000 Überlebende wurden versklavt. Im gleichen Jahr machte ein römisches Heer Korinth als Hauptort eines griechischen Bundes dem Erdboden gleich und nahm alle Einwohner in die Sklaverei. Im ersten vorchristlichen Jahrhundert wurde die römische Republik durch zahlreiche Bürgerkriege erschüttert. Dabei gingen die machtvollen Heerführer ähnlich grausam gegen ihre Volksgenossen vor wie gegen ihre äußeren Feinde, indem sie in willkürlicher Terrorherrschaft ihre politischen Gegner verfolgen und ermorden ließen.

Sowohl an den imperialistischen Kriegszielen der Römer wie auch an ihrer Kriegsführung gab es zeitgenössische Kritik. Der römische Schriftsteller und Staatsmann Cicero entwickelte ein Konzept auf naturrechtlicher Basis zur Einschränkung von Kriegen:
Krieg dürften nur geführt werden
- bei erlittenem Unrecht, als Selbstverteidigung oder Nothilfe für andere,
- als ultima ratio nach gescheiterten Verhandlungen,
- von der politischen Zentralmacht geführt,
- unter Maßhaltung sowie Unterscheidung von Schuldigen und Unschuldigen,
- zum Ziel, ohne Ungerechtigkeit in Frieden (damals der pax romana) leben zu können.

Die Schwäche von Ciceros Programm bestand in dem breiten Interpretationsrahmen, der auch auf die Interessen des römischen Imperiums anwendbar blieb. Gleichwohl sollte sein Ansatz, den Krieg durch ethische und rechtliche Prinzipien einzuhegen, wegweisend werden für die europäische Geschichte.

Der Kirchenlehrer Augustinus übernahm in den Grundzügen Ciceros Konzept, setzte aber neue Akzente: Die menschliche Gier und Grausamkeit bringe Kriege hervor, umso wichtiger sei das Friedensziel durch angemessene Kriegsführung sowie Friedensschluss mit dem Feind und nicht dessen Vernichtung. Er betonte auch die staatliche Machtlegitimierung der kriegführenden Parteien, um Privatfehden, Bürgerkriege und Eroberungskriege zu delegitimieren. Andererseits schloss er religiös sanktionierte Kriege für eine als gottgewollt geltenden Ordnung nicht aus – auch gegen Häretiker.

Der scholastische Philosoph Thomas von Aquin systematisierte die klassische Lehre vom zulässigen oder gerechtfertigten Krieg (bellum justum):
Gerecht war für Thomas ein Krieg nur dann, wenn er
• von einer dazu legitimierten Regierung geführt wurde,
• aus einem gerechten Grund, etwa als Verteidigungskrieg oder zum Erhalt des Gemeinwohls,
• in der rechten Absicht bei der Kriegsführung und dem Kriegsziel zur Friedenswahrung 
• sowie als ultima ratio zur Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit.

Daneben skizzierte die Scholastik auch einige Kriterien für das Recht im Krieg (jus in bello): Verhältnismäßigkeit der angewandten Kriegsmittel, Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten, Schutz der letzteren.

In der spanischen Spätscholastik des 16. Jahrhunderts spezifizierten Theologen und Philosophen einige Punkte: Kein Krieg zur gewaltsamen Bekehrung der Heiden; Notwendigkeit der Friedensliebe bei der Kriegsführung; Verbot zur Versklavung von Kriegsgefangenen (gegen muslimische Praxis); neue völkerrechtliche Ansätze mit dem Recht der Heiden auf Privateigentum und legitime Eigenherrschaft.

Der Sinn der Lehre vom gerechten Krieg war und ist die Einhegung von Krieg und Gewalt durch ethisch-politische Regeln. Sie zielt auf Reduzierung und Humanisierung von kriegerischem Handeln. 

II. Einen gänzlich anderen Ansatz zum Thema Krieg verfolgte der italienische Autor Nicolò Machiavelli mit seiner politischen Schrift Der Fürst von 1513, also in der Hochzeit der Renaissance. Der Verfasser war ein an antiken Schriften geschulter Diplomat der Republik Florenz. Nach der Rückkehr der Medici-Fürsten 1512 verlor Machiavelli seine Ämter. Im Exil auf einem Landgut begann er mit der Niederschrift des Il Principe.

Ein Ratgeber-Handbuch für autokratische Fürsten

Obwohl überzeugter Republikaner, verfasste Machiavelli mit dieser Schrift ein Ratgeber-Handbuch in 26 Kapiteln für autokratische Fürsten. Das Werk beschreibt die effektiven Mittel zu Machteroberung und Herrschaftssicherung von Stadt- und Landesherren. Zu seinen Empfehlungen kommt der Autor durch Beobachtung und Reflexion der zeitgenössischen Politik der italienischen Staaten wie auch aus (schlechten) Beispielen der Antike.

Machiavelli stellt keine Fragen an die ethische Berechtigung von Kriegen, Kriegsführung und Kriegszielen. Im Gegenteil. Der kriegsführende Herrscher soll je nach Lage ein listenreicher Fuchs oder zuschlagender Löwe sein. Verbrechen und Grausamkeiten, Auslöschen der Feinde und Vernichten ihrer Orte seien dann geboten, wenn diese Handlungen der Machteroberung nützten. Der Renaissance-Autor stellte sich in krassen Gegensatz zur damaligen europäischen Tradition der ethischen Kriegsbewertung, der oben skizzierten Lehre vom gerechten Krieg, sowie den damaligen Erziehungsgrundsätzen zu einem ‚guten Fürsten‘.

▪ In einem ersten Zugang stellt sich das Werk als politisch-praktisches Fachbuch dar. Das lässt sich gut an den drei Kapiteln über das Heereswesen zeigen. Der Autor warnt die Fürsten davor, Söldnerheere anzuheuern, weil diese inkompetent oder gefährlich seien. Noch gefährlicher stuft er Hilfstruppen ein. Denn werden sie geschlagen, bist du verloren; siegen sie, bist du ihr Gefangener. Nur durch ein Bürgerheer könne eine Herrschaft dauerhaft gesichert werden. Diese Argumentation erscheint vorausschauend-modern, insofern sich die Volksheere nach der Französischen Revolution durchgesetzt haben. Auch moderne Militärtheoretiker wie etwa Clausewitz wurden von Machiavellis sozial-strategischen Erwägungen inspiriert. 

▪ An einem weiteren Kapitel zu Volksbewaffnung und Festungsbau kann man den konditionalen Charakter seiner Vorschläge zur instrumentellen Vernunft erkennen. Machiavellis Fragen waren grundsätzlich so angelegt: Welche Mittel sind bei unterschiedlichen Bedingungen anzuwenden, um ein gegebenes Ziel, z. B. Machteroberung, zu erreichen? Bei der anstehenden Frage hält der Autor die Bewaffnung der Bevölkerung dann für sinnvoll, wenn ein Fürst damit eine konkurrierende Machtelite in Schach halten kann. In einem eroberten fremden Gebiet müsse dagegen die Bevölkerung entwaffnet und verweichlicht werden, um eine neue Herrschaft zu sichern. In gleicher Weise erörtert er den Festungsbau: opportun in Erwartung innerer Unruhen, nicht aber bei Bedrohung von fremden Mächten.

Erfolgreiche Kriegsführung ohne ethische Beschränkungen

▪ In fünf Kapiteln gibt Machiavelli Ratschläge, mit welchen Mitteln Fürsten neue Gebiete und Herrschaften erobern und festigen können. Entsprechend seinen vorherigen Überlegungen sollte der Eroberer auf eigenes Heer und seine Waffen vertrauen. Zum anderen zeichne große Eroberer und Herrscher die virtù aus, worunter er Willenskraft, Tatendrang, Energie und Geisteskraft versteht. Als Beispiel führt er Francesco Sforza an, einen Heerführer, der es mit Tatkraft, Geschick, List und Beziehungen bis zum Herzog von Mailand gebracht hatte.
Es geht Machiavelli ausschließlich um Mittel und Wege für erfolgreiche Kriege - der Krieg selbst und die Kriegsziele werden nicht erörtert. In diesem Ausschluss einer ethischen Kriegsbehandlung zeigt sich der Bruch dieser Schrift mit der damaligen europäischen Tradition auf christlichen Werten.

▪ Für die Sicherung von eroberten Gebieten und Städten gibt Machiavelli drei Lösungsmöglichkeiten an – jeweils nach den vorherigen Herrschaftsbedingungen: Lebten die Menschen schon vorher in herrschaftlicher Unterdrückung, so würden die Untertanen auch den neuen Herrscher oder seinen Stellvertreter gewöhnlich akzeptieren. Bei unruhigen Völkern sollte der Eroberer zumindest seine Residenz in das neue Gebiet verlegen. Für Städte und Republiken, die vorher in Freiheit und Selbstverwaltung gelebt haben, gibt es in der Tat kein sichereres Mittel der Herrschaftssicherung, als sie zu zerstören. So hatten es schon die Römer gemacht, als sie Capua, Karthago und Nummantia völlig zerstörten und sich dadurch in den Gebieten behaupteten. Diese Empfehlung wiederholt Machiavelli am Schluss des fünften Kapitels noch einmal: Republiken bergen das Andenken an die verlorene Freiheit. Am sichersten also ist es, sie zu zerstören. Indem sich der Autor an des älteren Catos Vernichtungsurteil: Carthaginem esse delendam (Karthago ist zu zerstören) orientiert, schöpft er aus den schlechteren Traditionen der Antike, die durch die römische Stoa-Ethik und später das Christentum als überwunden galt.

▪ Um das Verhältnis von fortuna und virtù geht es unter der Kapitelüberschrift: Von neuen Fürstentümern, die durch fremde Unterstützung und durch Glückfälle erworben werden.  Cesare Borgia, den Machiavelli persönlich kannte, ist in diesem Fall il principe. Er verdankte zwar seinen Aufstieg zum Kriegsherrn und Herzog der Macht und den Beziehungen seines Vaters Papst Alexander VI., dessen unehelicher Sohn er war. Aber er habe mit so viel eigenem Geschick seine Machtstellung gefestigt, dass Machiavelli keinen besseren Rat zu geben weiß, als seinem Beispiel zu folgen. Seine Herrschaftssicherung betrieb er einerseits durch die Auslöschung aller Geschlechter der ihrer Herrschaft beraubten Großen und indem er andererseits alle einflussreichen Edelleute von Rom mit Stellen, Geschenken und Ehren auf seine Seite zog. Er hatte militärisch gesiegt durch Gewalt und List und sich beim Volk beliebt und gefürchtet gemacht.

Den Ratschlag, politische Gegner als Feinde auszulöschen, wenn es die Notwendigkeit der Herrschaftssicherung erfordert, gibt Machiavelli ein halbes Dutzend Mal. Auch darin knüpft er an schlechte römische Traditionen an, etwa an die Aufstellung von Proskriptionslisten in der Zeit der Bürgerkriege im letzten Jahrhundert vor Christus. Zugleich gibt Machiavelli eine fatale Legitimierung für die autoritären Herrschaftssysteme der Moderne: Die Vernichtung politischer Gegner nach schwarzen Listen war sowohl in Stalins Sozialismus wie in Hitlers Nationalsozialismus ein System-Mittel. 

Der Machtmensch Cesare Borgia als Vorbild für Nietzsches Übermenschen     

Mit diesem Vorgehen sieht Machiavelli Cesare Borgia als herrschaftseffektives Vorbild für Machteroberung und Machtsicherung. Der Papst-Sohn gilt als Inbegriff eines skrupellosen, grausamen, hinterlistigen, treulosen und mörderisch-unmoralischen Machtmenschen, gewissermaßen das reale Gegenbild zu dem idealisierten, allseits gebildeten und an den moralischen Werten der Antike orientierten Humanisten. Doch die gegen Cesare vorgebrachten Anschuldigungen der Günstlingswirtschaft, der sexuellen Ausschweifung und der Grausamkeit waren in der Renaissance typische Begleitformen jeder autokratisch-feudalen Herrschaft, meint der Historiker Ernst Probst. Demnach wäre der gebildete Cesare Borgia eben doch der Grundtyp des verbreiteten Renaissance-Mensch gewesen, den die damals herrschenden Schichten als Vorbild ansahen, wie es ja auch Machiavelli macht. Es spricht einiges dafür, dass Friedrich Nietzsche durch die Machtmenschen der Borgias zu seiner Philosophie des Willens zur Macht angeregt wurde. Jedenfalls schrieb er in seinem Buch Ecce homo, dass man sich den Übermenschen eher als Cesare Borgia denn als Parsifal vorstellen müsse.

▪ Im Anschluss an das siebte Kapitel behandelt Machiavelli weitere Herrscher, welche durch Verbrechen zur Herrschaft gelangen und sich dort auch lange halten. Nach mehreren Beispielen fragt der Autor, wie es zu erklären sei, dass die Beschriebenen nach so vielen Verrätereien und Grausamkeiten sich lange als Herrscher halten konnten, ohne Aufstände und Verschwörungen von Seiten der Mitbürger fürchten zu müssen. In seiner Antwort, in der er den rechten vom schlechten Gebrauch von Grausamkeiten unterscheidet, hebt Machiavelli allein auf die Wirkung der Herrschertaten ab: Wohlangebrachte Grausamkeiten müssen auf einmal geschehen, damit sie weniger überdacht und besprochen werden. Wohltaten aber müssen nach und nach erzeigt werden, damit man sich unaufhörlich damit beschäftigt.  

Besser gefürchtet als geliebt

▪ Der Anschein oder Eindruck der fürstlichen Politik auf die Bevölkerung spielt auch für die fünf Kapitel eine Rolle, in denen Machiavelli die klassische Tugendlehre für die Fürsten erörtert. Sein Grundsatz lautet: Die moralischen Gesetze seien nur in einer idealen Welt einzuhalten. Die real existierende Welt sei voll schlechter Menschen und deshalb könne der Fürst sich nur gelegentlich an die moralischen Gebote halten. Ein Fürst dürfe sich nie vom Wohlwollen des Volkes abhängig machen, sondern sollte mit dosierten Grausamkeiten Furcht erzeugen. Die Furcht vor Züchtigungen sei Garant für seine Herrschaft. Der Fürst müsse aber vermeiden, gehasst oder verachtet zu werden. Unter diesem Aspekt entwickelt Machiavelli einige wenige Handlungsverbote für Fürsten: Sie dürften sich niemals am Vermögen, der Ehre und den Frauen der Untertanen vergreifen. Verächtlich wird auch angesehen, wer als wankelmütig, leichtsinnig, weibisch, kleinmütig und unentschlossen gilt. Mit männlicher virtù – Mut, Ernst und Stärke – sei das Volk zu beeindrucken und Achtung zu erringen – so im 19. Kapitel. Zur Ansehensförderung des Fürsten – und damit seiner Machtsicherung – empfiehlt der Autor auch die Belobigung fleißiger Gewerbe, die Rücksichtnahme auf Zünfte und Stände sowie die Beschäftigung des Volkes mit Festlichkeiten und Schauspielen.

Amoralische Politik mit dem Schein der Wohlanständigkeit

▪ Als weitere Begründung für fürstliche Amoralität führt Machiavelli an: Der Fürst kenne keinen (moralischen) Gerichtshof über sich. Seine Entscheidungen über den Mitteleinsatz sollten allein am Endzweck orientiert sein, nämlich seine Herrschaft und Gewalt zu sichern. Unter diesem Gesichtspunkt führt Machiavelli eine Reihe von Fürsten an, die mit Wortbruch und Lüge, Betrug und Treulosigkeit sehr erfolgreich in der Machtsicherung waren – z. B. der Borgia-Papst Alexander VI. Ein Fürst sollte sowohl die Rolle des listenreichen Fuchses als auch des grausamen Löwen spielen können.

Der amoralische Charakter von fürstlichen Handlungen und Entscheidungen müsse aber unbedingt vor dem Volk verborgen werden. Ein Fürst brauche daher nichts von den klassischen Tugenden haben, wohl aber das Ansehen davon. Es ist sehr nachteilig, stets redlich zu sein. Aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und redlich zu erscheinen ist sehr nützlich. Ein Fürst muss also das Gemüt besitzen, das dazu fähig ist, sich so, wie es die Winde und die abwechselnden Glücksfälle erfordern, zu wenden – schreibt der Autor im 18. Kapitel.

▪ Im 16. Kapitel erörtert Machiavelli die allgemein erwartete Fürstentugend der Freigiebigkeit. Großzügig und spendabel zu sein nütze den Herrschern nur, wenn sie es allseits bekannt machten. Auch fremdes, geraubtes Gut durchzubringen, macht keinen schlechten Namen, sondern das Gegenteil. Nur die verschwenderische Freigiebigkeit aus dem eigenen Gut schade. Denn auf die Dauer zehre große Freigiebigkeit am Vermögen, so dass der Herrscher dann die Untertanen mit Auflagen und Steuern beschweren müsse. Das aber mache ihn verhasst und untergrabe seine Herrschaft. Denn seine Freigebigkeit bereichere nur wenige, aber seine Auflagen drückten viele. Daher sei ein sparsamer Regierungsstil und Knauserigkeit – als geizig verschrien zu sein, formuliert der Autor - viel nützlicher für einen Herrscher als Freigiebigkeit.

Rationale Elemente in Machiavellis Schrift

Eine solche Einzelkritik an der klassischen Tugendlehre für Fürsten erscheint plausibel und rational begründet, wenn auch nicht in allen Folgerungen – etwa zum Verschwenden von fremdem Gut.

Auf diese und ähnliche Stellen stützten sich Befürworter von Machiavellis Schrift in der neuzeitlichen Geschichte. Aus den sieben Kapiteln über Waffen, Festungen und Heerwesen konnten Kriegstheoretiker ebenfalls einige rationale Ratschläge herausziehen – etwa Clausewitz. Auch zu bestimmten Folgerungen in Max Webers Schrift Politik als Beruf werden Linien aus dem Il principe gezogen, wobei dessen Gesamtkonzept der politischen Verantwortungsethik dem Grundansatz von Machiavelli eher widerspricht. Schließlich greift Hanna Arendt in ihren Schriften immer wieder und vielfach zustimmend auf Gedankengut aus der Fürstenschrift zurück.

Il principe war als Wiedergeburt der Antike eine amoralische Missgeburt

Insgesamt überwiegt aber die Kritik an dem Ansatz von Il principe. Schon italienischen Zeitgenossen des Autors fiel auf, dass Machiavelli sich vorwiegend auf die schlechteren Herrscher der Antike bezieht und von den grausamsten Kriegsherren und machtgierigsten Senatoren lernen will. Das waren die Überlieferungen aus der griechisch-römischen Antike, die das christliche Europa bis dato kritisch kommentiert bzw. ausgeschieden und überwunden hatte. In der Schrift Il principe jedenfalls war die Wiedergeburt der Antike eine amoralische Missgeburt. Sie sollte in der gesamten Neuzeit ihre hässliche Fratze zeitigen und – schlimmer noch – eine blutige Spur von autoritären Macht- und Gewaltexzessen entfalten.

Denn in der Gesamtbewertung bleibt als kritisches Resümee festzuhalten:

Als Wertmaßstab für politisches Handeln von Machtbestrebungen und Herrschaftssicherung ersetzt Machiavelli die klassische Ethik des Naturrechts und der fürstlichen Tugendlehre durch die ethisch nicht eingeschränkten Prinzipien der instrumentellen Vernunft.

Die ‚Staatsraison‘ rechtfertigt jedes Mittel - unabhängig von ethischen Prinzipien

Was zum Ende des 16. Jahrhunderts als Staatsraison auf den Begriff gebracht wurde, hatte Machiavelli grundgelegt. Dessen Ansätze erkennt man unschwer in der folgenden Definition wieder, allerdings mit der Verschiebung von persönlicher Fürstenherrschaft auf institutionell-staatliche Herrschaft:  Staatsraison ist ein Prinzip, das die Interessen des Staates über alle anderen (partikularen oder individuellen) Interessen stellt. Nach diesem absolutistischen bzw. obrigkeitsstaatlichen Prinzip ist die Erhaltung der Macht, die Einheit und das Überleben des Staates ein Wert an sich und rechtfertigt letztlich den Einsatz aller Mittel, unabhängig von Moral oder Gesetz. So heißt es im Politiklexikon 5 von 2011.

In dieser politischen Konzeption steht der Staat über allen ethischen Prinzipien, er nimmt als sterblicher Gott (Thomas Hobbes) die Stelle ein, selbst die moralischen Gesetze auszugeben und durchzusetzen. Der absolutistische Souverän erkennt keinen Gerichtshof über sich an. Des Weiteren steht die Staatsraison prinzipiell über allen Interessen der Einzelmenschen und einzelner Bevölkerungsgruppen. In dem Begriff Untertan kommt zum Ausdruck, dass es gegenüber dem absolutistischen Staat – und neben der Staatsraison - keine Bürger- und Menschenrechte geben kann, die der staatlichen Eingriffspolitik Schranken setzen.

Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der (instrumentellen) Vernunft, wurden die klassischen gewaltbeschränkenden Ethikregeln zu den Kriegsbedingungen in ihr machiavellistisches Gegenteil umgeformt zu einem ‚freien Recht auf Kriegführung‘ (liberum jus ad bellum). Damit gab man selbst Angriffskriege den Schein einer grundsätzlich legitimen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln (Clausewitz). Für diese realpolitische Maxime sind die drei Einigungskriege von Preußen ab 1864 ein treffendes Beispiel: Der preußische Kanzler Bismarck bereitete die Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich planmäßig vor durch Aufrüstung und politisch-diplomatische Absicherung und selbst den Beginn seiner Angriffskriege wusste er diplomatisch zu verschleiern.   

Machiavellis Ratschlag, als sicheres Mittel der Herrschaftssicherung gegebenenfalls politische Feinde umbringen zu lassen, aufmüpfige Städte und Republiken zu zerstören und gegnerische Volkgruppen zu vernichten, ist in den imperialistischen und totalitären Staaten der Neuzeit ebenfalls systematisch angewandt und ausgebaut worden. Dafür gab der jakobinische Terrorstaat die Blaupause ab mit seinen Deportationen von Zehntausenden Klerikern und Staatsfeinden, den 50.000 politischen Hinrichtungen sowie dem Vernichtungskrieg gegen Hundertausende Katholiken in der Vendée.

Der vom Wohlfahrtsausschuss geplante staatliche Auslöschungskrieg gegen die gesamte Population einer Region wird als der erste Genozid der Moderne angesehen. Der französische Historiker Reynold Secher spricht von einem franko-französischen Genozid im Sinne der Nürnberger Prozesse.

Die Terrormethoden und Massenmorde der Französischen Revolution waren zwar von den europäischen Mächten des 19. Jahrhunderts geächtet. Gleichwohl kam es bei den kolonialen Eroberungen an den Peripherien zu kriegerischen Terrormethoden. Exemplarisch ist zu erinnern an die systematische Ausrottung der Urbevölkerung von Tasmanien um 1830 durch britische Siedler und Söldner, an die belgische koloniale Terrorherrschaft im Kongo am Ende des 19. Jahrhunderts mit bis zu zehn Millionen Opfern oder an den genozidalen Krieg gegen die Hereros und Namas durch die kaiserliche deutsche Schutztruppe ab 1904

Für die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts hatte der Machiavellismus grundlegende Bedeutung. Treffendes schrieb der Schriftsteller Arthur Koestler darüber als Kenner des stalinistischen Kommunismus aufgrund seiner Mitgliedschaft in der KP. In seinem Buch Sonnenfinsternis (1940) ließ er einen hohen KP-Funktionär sagen: „An den kritischen Wendepunkten der Geschichte ist keine andere als die alte Regel möglich, dass der Zweck die Mittel heilige. Wir haben den Neo-Machiavellismus in dieses Jahrhundert eingeführt; die anderen, die konterrevolutionären Diktaturen sind plumpe Kopien. Wir waren die Neo-Machiavellisten im Namen der universalen Vernunft – die anderen im Namen der nationalen Romantik.“

Für den Sowjetherrscher Stalin gehörte die Ukraine mit ihrem Bestreben zur kulturellen und nationalen Selbstbehauptung zu jenen Republiken, zu denen Machiavelli den Ratschlag gegeben hatte, solche Einheiten mit allen verfügbaren Mittel zu zerstören.

Zwar mussten die Bolschewiki die nach der Oktoberrevolution ausgerufenen unabhängigen Randstaaten des zerfallenen Zarenreiches vorerst im Föderationsvertrag der Sowjetrepubliken von 1922 anerkennen, freilich schon damals unter der Herrschaft der zentralistischen Struktur der Kommunistischen Partei. Aber bald nach Lenins Tod begann Stalin mit einer Verdächtigungskampagne gegen „bürgerlichen Nationalismus“ gezielt die kulturellen Eigenständigkeitsbestrebungen mit aller Gewalt zu unterdrücken. In der Ukraine wurden seit Mitte der 20er Jahre 10.000 orthodoxe Kleriker ermordet und mehr als 100.000 Intellektuelle und Kulturschaffende nach Sibirien deportiert. Als sich Ende der 20er Jahre die Kulaken der sowjetischen Zwangskollektivierung und russifizierenden Umerziehung widersetzten, wurden die Strafaktionen und Deportationen auf die Mittelbauern ausgeweitet. Die Terrorpolitik Stalins, später als Tötung durch Hunger - ‚Holodomor‘ - bezeichnet, führte in der Ukraine zu drei Millionen Opfern, mehr als in allen anderen Landesteilen der Sowjetunion mit nicht-russischen Völkern. Arthur Koestler war Zeuge dieser genozidalen Unterdrückungspolitik, die von westlichen Journalisten und Schriftstellern vielfach schöngeredet oder gar verleugnet wurde.

Die Säuberungsaktionen von 1937/38, Stalins Großer Terror genannt, bestanden nur zum Teil aus Partei- und Militärsäuberungen. Timothy Snyder, der Autor des Buches Bloodlands, leitet sein zweites Kapitel mit dem Satz ein: „Stalin war ein Pionier des ethnischen Massenmordes“, hauptsächlich an polenstämmigen und ukrainischen Sowjetbürgern.

Stalin selbst hatte am zwanzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution in einem Trinkspruch allen nationalen Abspaltungsversuchen gedroht: Jeder, der nach Abtrennung von Nationalitäten von der sozialistischen Sowjetunion trachte, sei ein Feind des sozialistischen Staates. „Wir werden jeden dieser Feinde und seine Sippe vernichten“ (FAZ 25.4.2023). Etwa eine Viertelmillion Polen und Ukrainer wurden damals vor dem 2. Weltkrieg durch Genickschuss liquidiert, Hundertausende deportiert.

Auch die Terrormaßnahmen Stalins in den von der Roten Armee besetzten Gebieten Ostpolens in den Jahren 1939/40 sind in der Ukraine nicht vergessen, weil sie in weiten Teilen der heutigen Westukraine stattfanden.

Der russische Präsident Wladimir Putin verteidigt die großrussische Hegemonial- und Kriegspolitik Stalins. Er nennt die Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetunion einen „schlimmen Fehler“, insbesondere dass Lenin die Ukraine vom alten Russland abgetrennt und ihr eine eigene Staatlichkeit geschenkt habe. 

 Putin persönlich hat in zwei Aufsätzen in den letzten Jahren den Ukrainekrieg ideologisch vorbereitet. Er rechtfertigt darin die russisch-sowjetische Einflusssphärenpolitik des Hitler-Stalin-Paktes sowie die Oberherrschaft Russlands über die Ukraine als neurussisches „Brudervolk“, dem er kein Recht auf eigene Sprache, Kultur und Nationbildung zugesteht. Sofern sich Politiker und Zivilisten dem russischen Herrschaftsanspruch widersetzten, seien sie Faschisten und als solche zu vernichten.

Putins Krieg gegen die unabhängige Ukraine und sein Kampf gegen die dortige Zivilbevölkerung stehen in der unterdrückerischen Tradition des stalinistischen Sowjetimperialismus‘. Auf lange Sicht sind sie eine späte Frucht der amoralischen Herrschaftssicherungsregeln von Machiavelli, der den Ratschlag gegeben hatte, gegebenenfalls widerständige Republiken zu zerstören und gegnerische Volkgruppen zu vernichten.

Hubert Hecker