Pfingsten - Die Sehnsucht ist der Anfang von allem (Nelly Sachs)
* Die ganze Heilige Schrift ist durchtönt vom Ruf Gottes: Komm. Es ist der Ruf Gottes am Schöpfungsmorgen, als er den Menschen ins Dasein rief. Es ist der Ruf Gottes in das Versteck des schuldigen Adam, es ist der Ruf zum Aufbruch an Abraham (Zieh fort aus deinem Land) ebenso wie an die Apostel (Kommt, ich will euch zu Menschenfischern machen). Es ist der Ruf Gottes an die Propheten, an Mose, an Maria. Immer hören wir in der Geschichte der Menschheit: Komm. Gott ruft. Die Zeiten sind erfüllt von seinem Wort. Gottes Ruf klingt in den Dingen, hallt in den Ereignissen, spricht durch Menschen. Einem Liebenden gleich wirbt Gott um uns Menschen wie um die Braut. Im Anfang war das Wort, heißt es am Beginn des Johannesevangeliums; es ist sein Ruf, der Wirklichkeit schafft, in der Kraft des Heiligen Geistes.
* Überall dort, wo Menschen im Glauben innehalten, vernehmen sie diesen Ruf: Komm. „Der Geliebte spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch (Hld 2,10). Und: „Horch! Mein Geliebter! Sieh da, er kommt“ (Hlf 2,8). So sehr wird der Mensch im Glauben Hörender, daß er gar nicht anders kann, als in sich den Antwortruf zu entdecken, der um das Kommen Gottes fleht:
- O komm, o komm, Immanuel…
- O Heiland reiß die Himmel auf…
- Veni Sancte Spiritus…
Der im Glauben Angerufene, der in den Glauben Gerufene spürt, wie Gottes Ruf des Menschen Ruf nach Gott erzeugt, wie das Werben Gottes die Sehnsucht des Menschen weckt, die Sehnsucht nach Befreiung, nach Erlösung, nach Licht und Leben, nach Heil.
* „Komm herab, o Heilger Geist, der die finstre Nacht zerreißt … Komm, der alle Armen liebt … Höchster Tröster in der Zeit … Komm, o du glückselig Licht … Ohne dein lebendig Wehn kann im Menschen nichts bestehn, dring bis auf der Seele Grund … Gib dem Volk, das dir vertraut, das auf deine Hilfe baut, deine Gaben zum Geleit … und der Freuden Ewigkeit.“
* Es gibt kaum einen schöneren Sehnsuchtsruf des Menschen auf Gott hin als diese Pfingstsequenz. In diesem Ruf ist all das Bedürfen, Hoffen und Bangen, sind all unsere Wünsche und Erwartungen ins Wort gebracht, also all das was unseren Zustand als Geschöpfe und Sünder ausmacht – aktualisierbar auf tausendfache Weise je individuell oder gemein-schaftlich in jeweiliger Zeit. Es ist das Seufzen der Menschheit in innerweltlich unstillbarer Sehnsucht, es ist die Sehnsucht der Menschen, die sich selbst nicht genügen kann und doch zu hoffen wagt auf Licht, Trost und Geleit von Gott her durch Jesus Christus im Heiligen Geist.
* Im Glauben entdecken wir, daß unsere Sehnsucht die Antwort ist auf die Sehnsucht Gottes nach uns. Wir schreien nach Heil, weil Gott uns liebend ruft, so sehr, daß der Heilige Geist selbst in uns seufzt und ruft, weil wir ja nicht wissen, worum wir in rechter Weise beten sollen (vgl. Röm 8,26-27). Homo desiderum dei, sagt Augustinus so treffend auf Latein. Diese eine Aussage muß zweifach verstanden werden: Gott sehnt sich nach dem Menschen; und: Der Mensch sehnt sich nach Gott.
* Das bezeugt die Botschaft der Kirche. Sie kündet davon, daß Gott am Ende der Zeiten, als die Zeit erfüllt war, seinen Sohn aus-rief: Komm, meinen Willen zu erfüllen. Und Jesus versöhnt mit seinem Schrei am Kreuz die Sehnsucht Gottes mit der Sehnsucht der Menschen (vgl. Mk 15,37 und Hebr 10,5-9). Seither ist die Kirche dazu da, dem Wort Gottes und der Antwort des Menschen Raum zu geben. Der Ruf Gottes „Komm“ verstummt nicht mehr in ihr, mag sie auch noch so staubig durch die Zeiten pilgern. „Der Geist des Herrn durchweht die Welt, gewaltig und unbändig; wohin sein Feueratem fällt, wird Gottes Reich lebendig. Da schreitet Christus durch die Zeit in seiner Kirche Pilgerkleid, Gott lobend: Halleluja“ (Gotteslob 347). Und der Geist und die Braut rufen unaufhörlich: Amen, komm, Herr Jesus! Ja, heißt es immer wieder neu, ich komme bald (vgl. Offb 22).
Amen.
Prof. Dr. Hubert Windisch