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Castellucci, das Sündenbocksyndrom und die journalistische Doppelmoral

( Synodaler Bruch 2 )

Nach den Studien und Hochrechnungen von Prof. Fegert / Ulm liegt die Zahl der Erwachsenen, die in Kindheit oder Jugendzeit missbraucht wurden, hierzulande bei „deutlich mehr als zehn Prozent“. Somit haben mehr als acht Millionen Deutsche aus  allen gesellschaftlichen Bereichen Missbrauchserfahrungen. Aktuell sind etwa eine Million Kinder und Jugendliche von sexuellem Missbrauch betroffen. In jeder Schulklasse sitzen ein bis zwei missbrauchte Kinder. Bei steigenden Zahlen hat sexuelle Gewalt gegen Kinder inzwischen „pandemische Ausmaße“ angenommen, so die Einschätzung des unabhängigen Missbrauchsbeauftragten Johannes Röhrig vor einem Jahr.

In der Medienöffentlichkeit wird diese „Kinderschutzkatastrophe“ nicht ansatzweise abgebildet. Im Gegenteil. Seit 2010 vermitteln die Medien Missbrauch als ein hauptsächlich kirchliches Phänomen. Mit periodischen Skandalisierungskampagnen macht man die Kirche zum Sündenbock. Auf sie wird alle Missbrauchsschuld konzentriert und damit aus der Gesellschaft weggeschoben, verdrängt. Seit 2010 versuchen die Medien, Papst Benedikt Vertuschungsschuld anzuhängen. Die Münchener Kanzlei WSW bemühte sich kürzlich, in einer „dramaturgisch“ inszenierten Gutachten-Vorstellung den emeritierten Papst als Hauptschuldigen an Missbrauch und Vertuschung zu präsentieren.

Den pandemischen Missbrauch personalisieren und damit wegschieben

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci, derzeit kommissarischer Leiter des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, beobachtete das Medienecho auf das Münchener Gutachten mit Sorge. Über das Warum befragt, antwortete er: Ihm sei schon vor der Veröffentlichung des Gutachtens klar gewesen, „dass sich viele auf den vormaligen Papst Benedikt XVI. konzentrieren würden. Aber dahinter könnte man auch einen psychologischen Mechanismus vermuten. Eine Gesellschaft kann die Verantwortung für sexuelle Gewalt personalisieren und damit von sich selbst wegschieben. Das ist genau das, was nicht passieren darf“ (FAZ 31.1.2022).

           Mit anderen Worten: Im Hinblick auf das Medieninteresse machte die Kanzlei den Papst zum Sündenbock. Anschließend          
           wurden ihm auf allen medialen Kanälen Schuld und Schande aufgeladen. Im öffentlichen Prozess dieser Schuldverlagerung auf  
           eine exponierte Person wurde die Bedrückung des millionenfachen Missbrauchs in allen Bereichen der Gesellschaft verdrängt.

Aber ist Joseph Ratzinger nicht eine denkbar unpassende Projektionsperson? Als Kardinal und Papst hat er in den Jahren von 1990 bis 2013 gegen Missbrauch in der Kirche mehr getan und bewegt als jeder andere Bischof, Kardinal oder Papst. Offenbar funktioniert das Sündenbocksyndrom gerade bei einem Unschuldigen – etwa nach dem psychologischen Relativierungsmechanismus: Angesichts der Beschuldigungen gegen das angesehene ehemalige Kirchenoberhaupt dürften unsere aller kleinen Sünden doch minimiert sein. Castellucci hält solche Reaktionen für allzu menschlich. Gleichwohl müsse die Gesellschaft zu der Erkenntnis kommen: „Das Böse steckt in uns allen.“ Dem müsse man sich stellen, auch wenn es schwerfällt.

Der SPD-Politiker beschreibt seinen Ansatz folgendermaßen: „Sexualisierte Gewalt ist ein Thema der ganzen Gesellschaft.“ Es gebe sie in allen gesellschaftlichen Bereichen „und leider vor allem auch in Familien und deren Umfeld. Da müssen wir zu einer Gesamtstrategie kommen. Bei aller Kritik an den Kirchen: Sie gehen hier auch auf einem Weg voran, der anderen noch bevorsteht.“

Doppelte Standards zu den Bereichen Kirche und Sport

Angesichts von mehr als einer Million Missbrauchstätern und -täterinnen im Sport, in Schulen, Heimen, in der Familie, von Ehrenamtlichen, Vätern, Müttern, Nachbarn und Bekannten ist Erschütterung und Fassungslosigkeit angebracht. Aber die Medien präsentieren vorwiegend übergriffige Geistliche. Auf diese Tätergruppe im Promillebereich kann sich dann die öffentliche Empörung konzentrieren, alle anderen Täter bleiben eher im Dunkelfeld.

Ein Tag nach der Skandal-Schlagzeilen über die 479 Missbrauchsopfer seit 1945 im Bistum München berichtete die FAZ auf der letzten Zeitungsseite über aktuell erlebte Missbrauchsgeschichten in Sportverbänden. Bei einer betroffenen Frau, die von einem Fußballtrainer regelmäßig vergewaltigt wurde, bevor sie zwölf Jahre alt war, ist der Schmerz über die schreckliche Kindheitserfahrung noch nach Jahrzehnten spürbar: „Mit dem Missbrauch, das ist, als wenn mir einer mutwillig die Eisenstange aufs Knie gehauen hat, nur unsichtbar.“[1]

Nach Hochrechnungen liegt die Zahl von Fällen eindeutiger sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Sportvereinen bei rund 200.000 Opfern (FAZ 22.1.2022). In einer Studie zum Kadersport hat ein Drittel der Spitzensportler sexualisierte Übergriffe jeglicher Art erfahren. Öffentliche Bekundungen von Erschütterungen oder Fassungslosigkeit zu dieser seit 2019 bekannten Zahl von Missbrauchsfällen in Sportbereich sind nicht bekannt geworden. Wenn die gleichen Zahlen und Geschichten von der Kirche berichtet worden wären, hätte es wochenlang mediale Empörungsartikel sondergleichen gegeben.

Matthias Katsch, bekannt als Betroffener aus dem Berliner Canisius-Kolleg, ist in einem Portal, auf dem Missbrauchte ihre Leidensgeschichten erzählen können, für den Sportbereich zuständig. Die Missbrauchsopfer sollten öffentliche Anerkennung für das erlittene Unrecht erhalten, natürlich auch finanziell. Seit kurzem dürfen 30 missbrauchte Kadersportler vom Deutschen Olympischen Sportbund auf Entschädigungsgeld aus der Stiftung Deutscher Sport hoffen. Die maximale Unterstützungssumme ist auf 10.000 Euro begrenzt.[2]

Als die Deutsche Bischofskonferenz im September 2020 den Beschluss fasste, Missbrauchsopfern in der Kirche Entschädigungszahlungen von bis zu 50.000 Euro zu leisten, meldete sich Katsch lautstark und medienzentriert zu Wort: Die katholische Kirche müsste für jeden Fall zwischen 40.000 und 400.000 Euro zahlen, wenn nötig auch aus Kirchensteuergeldern der Gläubigen. Gegenüber der Kirche baut sich Katsch bei jeder Gelegenheit zum Protestriesen auf, der von den Medien noch weiter aufgeblasen wird. Zu der weit geringeren Entschädigungssumme im Sport hat man von ihm kein Protestwort gehört. Die Medien ducken sich ebenfalls kleinlaut weg.

Der Sport hat ein „gewaltiges Problem, das größer erscheint als das der katholischen Kirche“, notierte der Sportjournalist Anno Hecker.[3] Dabei haben die Sportverbände noch ein Riesendefizit im Umgang mit Missbrauch aufzuarbeiten bei der Erfassung der ca. 200.000 Missbrauchsfälle, dem Meldesystem, den Ermittlungsinstanzen, von Entschädigungszahlungen ganz zu schweigen. Aus dem kürzlich gestarteten Missbrauchs-Aufarbeitungsprojekt kam die Verlautbarung: „Eine Entschädigung Betroffener, wie sie etwa in der katholischen Kirche verhandelt wird, lehnt der deutsche Sport kategorisch ab.“[4]

Diese Ankündigung von Anfang Januar 2022 hätte das Zeug gehabt, einen medialen Tsunami auszulösen mit anschließender Austrittswelle – wenn sie von der Kirche gekommen wäre. Sie kam aber von einem Sportgremium und deshalb raschelte im deutschen Medienwald nur ein einziges Blättchen: Der Deutschlandfunk brachte am 16. 1. lakonisch-emotionslos diese Meldung von dem kategorischen Nein zu Missbrauchs-Entschädigungen im deutschen Sport. Vier Tage später wurde dann doch noch eine riesige Medienwelle angestoßen – als Sündenbockkampagne gegen Papst und Kirche.

Journalistische Doppelmoral

Der Mainstream der Medien, zum Teil auch die Betroffenensprecher, legen bei der Behandlung und Bewertung von Missbrauch in der Kirche einerseits und allen anderen gesellschaftlichen Institutionen unterschiedliche Maßstäbe an, als wenn das Leiden der Opfer je nach Tatort und Täter ungleich wäre. Im Kirchenkontext ist jeder Missbrauch ein Topthema für die meisten Medien, bei dem das antikirchliche Empörungspotenzial ausgereizt wird. Obwohl „der Sport besonders anfällig ist für sexualisierte Gewalt“ (Spiegel 5/2021), kommt das Missbrauchsthema aus dem Sportbereich nur bei wenigen Medien und dort nur selten oder auf den hinteren Seiten. Die Sportverbände und ihre Defizite bei Erfassung, Aufklärung und Entschädigung von Missbrauch in ihren Reihen werden nie skandalisiert.

Die katholische Kirche (mit ihren guten und auch fehlerhaften Seiten) hat dagegen bei den meisten Blättern von Boulevard- bis Qualitätsmedien keine Chance auf durchgehend sachliche und faire Berichterstattung.

43 Prozent der Journalisten sind sich in dem Kollektivverdacht einig, dass „die katholische Kirche scheinheilig“ sei.[5] Durch diesen Vorwurf der Doppelmoral glauben sie sich berechtigt, durch überspitzte Skandalvorwürfe die Kirche an den Pranger stellen zu dürfen, auch wenn sie dadurch gegen die journalistische Berufsethik der „wahrheitsgemäßen Unterrichtung der Öffentlichkeit“ (Pressekodex) verstoßen. Jedenfalls könnte der im Journalismus weitverbreitete antikatholische Affekt erklären, warum sich in den Medien ein doppelter Standard in der Berichterstattung zum Thema Missbrauch in der Gesellschaft etabliert hat. Und so wird mit der journalistischen Doppelmoral ein Kampf gegen die vermeintliche kirchliche Doppelmoral geführt.

Christoph Röhl hat einen Film über die ehemalige Odenwaldschule gedreht. An der inzwischen geschlossenen UNESCO-Projektschule sind im Laufe von 20 Jahren bis zu 900 Schüler durch zwei Dutzend Lehrpersonen missbraucht worden. (Das war das Zehnfache der aktenkundigen Missbrauchsopfer im gesamten Bistum Limburg über 70 Jahre.)

Angesichts der exorbitanten Opferzahlen wäre es Röhls journalistische Pflicht gewesen, die spezifische pädagogische Rahmenkonzeption der Schule zu recherchieren, insbesondere die sexualliberale Komponente. Denn schon aus der Gründungszeit der Internatsschule sind Missbrauchsvorfälle vom Erziehungspersonal belegt, die mit den liberalpädagogischen Programmpunkten von koedukativem Nacktsport und distanzloser Nähe der Lehrer zu den Schülern im Zusammenhang standen. Doch der Filmemacher will von diesen missbrauchsanfälligen Rahmenbedingungen der sexualliberalen Reformpädagogik nichts wissen und blendet sie aus. Er glaubt, den massenhaften Missbrauch und seine Vertuschung aus der individuellen Willkür des Direktors und seiner schulischen Mittäter erklären zu können.

In seinem späteren Film über Papst Benedikt und seinem Buch mit Doris Reisinger zu Missbrauch in der Kirche macht Röhl dagegen institutionelle Traditionen der Kirche für Missbrauch und Vertuschung verantwortlich, die im „System Ratzinger“ – so der Buchklappentext – kulminiert wären. Bei diesem Ansatz werden die einzelnen Täter entlastet, während den kirchlichen Strukturen sowie dem Papst die Hauptschuld in die Schuhe geschoben wird.

Zu der Missbrauchsdarstellung in zwei unterschiedlichen Institutionen scheint es das handlungsleitende Interesse des Filmemachers zu sein, einerseits das System der liberalen Reformpädagogik vor Kritik zu schützen und zu rechtfertigen, andererseits der Kirche und ihrem konservativem Repräsentanten Papst Benedikt eine Systemschuld am Missbrauch anzuhängen.

Auch in diesem Fall ist die journalistische Doppelmoral offensichtlich.

Hubert Hecker

 



[1] Michael Reinsch: Am helllichten Tage, FAZ, 22. 1. 2022

[2] Ebenda

[3] Faz.net: Opfer von Gewalt im Sport brauchen Hilfe und Entschädigung, 12. 3. 2021

[4] Deutschlandfunk: Sexualisierte Gewalt im Sport, 16. 1. 2022

[5] Hans Mathias Kepplinger: Totschweigen und Skandalisieren, Köln 2017, S. 80